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Das "Alphabet des Ankommens" zeigt Migrations-Reportagen als Comic

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Das Mädchen gegenüber stiert gebannt auf sein Handy, ein Mann ist in seine Zeitung vertieft, ein Pärchen küsst sich. Merhawi sitzt allein in der U-Bahn und kann nicht wegsehen. Alle sind beschäftigt, starren in Smartphones, Bücher, iPads. Keiner setzt sich neben ihn. 

Feine Striche verleihen Merhawis Gesicht Ausdruck, der während der U-Bahnfahrt zwischen Verwirrung und Entsetzen hin- und herschwankt. Die Szenen sind in den Farben blau und rot gehalten. Größere Flächen wie Fensterscheiben, Mäntel und Haare scheinen hastig mit Wasserfarbe nachgemalt. Was sich im Gesicht des Mannes spiegelt, geht auch in – oder besser gesagt – über seinem Kopf, in einer Gedankenblase vor: Die Menschen hier verhalten sich wirklich merkwürdig. 

Merhawi Baire ist aus Eritrea geflüchtet und lebt jetzt in Hamburg. Um einen Deutschkurs besuchen zu können, fährt er jeden Tag zwei Stunden lang ins Stadtzentrum und wieder zurück. Um die Deutschen besser zu verstehen, sucht er Kontakt in der U-Bahn. Aber wie funktioniert das, wenn man die sozialen Umgangsformen nicht kennt?

Darum geht es in der achtseitigen Comic-Reportage „Von der Sahara in die U-Bahn“, gestaltet von dem Journalisten Ahmed Mohammed Omer und der Zeichnerin Alice Socal.

Comic-Journalismus ist bisweilen ein in Deutschland recht unbekanntes Genre

Das ist nur eine der insgesamt zwölf Geschichten, die bei dem Projekt „Alphabet des Ankommens“ entstanden ist. Bei dem einwöchigen Workshop in Hamburg haben sich je zwölf Journalisten und Comiczeichner aus insgesamt zehn Nationen zusammengetan, um gemeinsam Comic-Reportagen rund um das Thema Migration zu gestalten. Seit dem 20. Mai gibt es sie hier zu sehen.

Comics und Journalismus? Die Vermischung zweier Berufe und Genres, die auf den ersten Blick nicht recht zueinander passen wollen, liefert am Ende ein erstaunliches Ergebnis ab: Sie ermöglicht einen neuen Blickwinkel auf das allgegenwärtige Thema Migration, transportiert über eine in Deutschland noch recht unbekannte Darstellungsform. Die Idee zu dem Projekt entstand nicht ganz uneigennützig: "Als Deutscher Comicverein wollten wir die Entwicklung dieser Reportageform in Deutschland etwas anschieben", erklärt die Projektleiterin und Journalistin Lilian Pithan. 

Die Autoren der Geschichten stammen aus Ländern wie Syrien, Italien, Tunesien oder Deutschland. "Wir wollten einfach mit Zeichnern und Journalisten aus unterschiedlichen Ländern zusammenarbeiten, um von comic-journalistischen Erfahrungen zum Beispiel aus Frankreich oder Italien zu lernen", sagt die Projektleiterin. "Während es in Frankreich und auch in englischsprachigen Ländern längst spezialisierte Webseiten und Anthologien gibt, ist hierzulande auch in der regulären Printpresse in dieser Richtung wenig zu entdecken", ergänzt der Comiczeichner Sascha Hommer, der gemeinsam mit Pithan das Projekt leitet.

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Durch die verschiedenen Sprachen und Zeichenstile wird die Vielfältigkeit von Migration konkret deutlich

Die Geschichten erzählen vom Warten auf den Nachzug der Familie, vom Zusammenhalt beim internationalen Fußballverein FC Lampedusa, vom Fertigwerden mit Erinnerungen und vom Kampf mit Behörden. "Durch die vier verschiedenen Sprachen und die zwölf verschiedenen Zeichenstile wird die Vielfältigkeit von Migration ganz konkret deutlich", erklärt Pithan weiter. Tatsächlich unterscheiden sich die Ergebnisse nicht nur inhaltlich voneinander: Einige sind knallbunt, andere in schwarz-weiß gehalten, manche kurz, manche lang, andere ernst und wieder andere mit Witz. 

 

Die Teams, bestehend aus je einem Journalisten und einem Zeichner, fanden sich durch gemeinsames Interesse an einem bestimmten Thema. Zunächst arbeitete jedes Team ein Skript aus, das auf den von den Journalisten recherchierten Informationen aufbaute, im Anschluss setzten die Comiczeichner die einzelnen Sequenzen in Panels um. Lediglich die finale Textfassung beziehungsweise die Reinzeichnungen erledigten die Teammitglieder einzeln. 

Es sei oft schwierig für die Zeichner, komplexe Inhalte in simplen Einzelbildern auszudrücken, sagt Hommer. Auch für die Journalisten sei es eine ungewohnte Situation: "Es ist eine neue Art des Erzählens anhand von Bildern in Kombination mit Text, aber alles muss sehr präzise sein. Man muss visuell denken und so einen Weg finden, eine Geschichte so zu erzählen, dass sie für viele Menschen interessant ist." 

 

Dass Comics mehr sein können als Entenhausen und es Reportagen auch in anderen Formen als Prosa gibt, ist spätestens nach diesem Projekt klar.

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