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Was ist los mit dir, Deutschland? Folge 3
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Immer mehr Menschen leben in Deutschland auf der Straße: Die Bundesarbeitsgemeinschaft für Wohnungslosenhilfe (BAG W) schätzt, dass die Zahl der Obdachlosen allein zwischen 2012 und 2014 um 50 Prozent angestiegen ist. Für 2016 werden noch höhere Zahlen erwartet. Generell schätzt die BAG W, dass es in Deutschland derzeit 335.000 Wohnungslose gibt, wirklich obdachlos sind davon etwa zehn Prozent. Das bedeutet, dass sie tatsächlich auf der Straße leben und nicht nur einfach keine Wohnung haben und deshalb bei den Eltern oder Freunden unterschlüpfen müssen. Die Datenlage zum Thema Obdachlosigkeit ist allerdings sehr schlecht, was auch daran liegt, dass die Bundesregierung keine eigenen Zahlen dazu erhebt.
Was sind die Gründe für die Obdachlosigkeit? Warum kommen viele nicht in Notunterkünften unter und was könnte der Staat besser machen? Wir waren eine Nacht lang mit einem Kältebus der Berliner Stadtmission unterwegs und haben deutschlandweit bei verschiedenen Anlaufstellen Informationen zu dem Thema gesammelt und natürlich auch eure vorher eingesandten Fragen dazu beantwortet.
Wieso landen überhaupt Menschen auf der Straße?
Natürlich hat jeder Obdachlose seine eigene Geschichte. Es gibt aber bestimmte Faktoren, die häufig eine Rolle spielen. Wir haben während unserer Recherchereise mehrmals den Satz gehört „In Deutschland geht es uns sehr gut und auf der Straße schlafen muss hier doch wirklich niemand!“ Aber so einfach ist das nicht.
Am Anfang steht die Wohnungsnot: Die BAG W wertet regelmäßig aus, wer in ihren Beratungsstellen um Hilfe bittet. Häufig sind das Leute, die Mietschulden haben, den Wohnort wechseln mussten oder sich von ihrem Partner getrennt haben. Auch ehemalige Gefängnisinsassen, Kinder, die bei ihren Eltern rausgeflogen sind und Menschen, die sich mit ihrer Nachbarschaft verkracht haben, sind darunter.
Die Berliner Stadtmission, die auch den Kältebus betreibt, mit dem wir eine Nacht lang mitfahren durften, hat im vergangenen Winter einen Anstieg von psychisch und physisch erkrankten Obdachlosen festgestellt. Kältebusfahrer Yannick schätzt, dass etwa zwei Drittel der Gäste seines Kältebusses drogen- oder alkoholabhängig sind. Genau einordnen lässt sich allerdings nicht, ob die Süchte der Grund für die Obdachlosigkeit sind oder eine Folge, oder ob andere Faktoren (wie zum Beispiel gravierende persönliche Probleme) die Ursache für beides sind.
Einige der Menschen, denen wir in unserer Nacht mit dem Kältebus begegnet sind, waren betrunken oder auf Drogen, viele hatten gesundheitliche Probleme. Zwei Personen kamen direkt aus dem Krankenhaus. Beide Krankenhäuser weigerten sich, die Obdachlosen auch nur für eine Nacht zu beherbergen
Für Ortrud Wohlwend von der Berliner Stadtmission liegen die Gründe für Obdachlosigkeit häufig in der Vergangenheit eines Menschen: „Ungleiche Startbedingungen sind der Hauptgrund. Viele Obdachlose, die ich kennengelernt habe, kamen schon in ihrer Kindheit in Kontakt mit Drogen oder Alkohol oder wurden von ihren Eltern misshandelt.“ Ihrer Meinung nach ist aber auch die Gesellschaft als Ganzes dafür verantwortlich, sich um die Menschen zu kümmern, die keine Perspektive haben. Wenn Nachbarn wegschauen oder sich über verwahrlosten Menschen in der Nachbarwohnung zwar beim Vermieter beschweren, ihnen aber keine Hilfe anbieten, begünstige das die Obdachlosigkeit.
Warum schlafen viele Obdachlose nicht in einer Notunterkunft?
Wer obdachlos wird, kann theoretisch in einer Notunterkunft Unterschlupf finden. Eine Merkel-muss-weg-Demonstrantin, die wir für die erste Folge von „Was ist los mit dir, Deutschland?“ interviewt haben, hat sich bei uns darüber beklagt, dass es zu wenig Übernachtungsplätze für Obdachlose gibt. Und das stimmt auch:
Zwar hat der Berliner Senat die Anzahl der Übernachtungsplätze auf 920 erhöht, allerdings sind das immer noch recht wenige, wenn man bedenkt, dass die Berliner Stadtmission im vergangenen Winter 3000 verschiedene Obdachlose betreut hat. Ortrud Wohlwend von der Berliner Stadtmission schätzt, dass insgesamt sogar 5000 bis 6000 Menschen in Berlin auf der Straße leben.
Viele dieser Menschen wollen auch gar nicht in einer Notunterkunft übernachten. Rollstuhlfahrer Olaf meinte zu uns: “Ich würde eher sterben als dort zu schlafen.“ Olaf will weder die Biervorräte zurücklassen, die er in einem alten Kinderwagen hortet, noch möchte er das Risiko eingehen, sich mit Läusen oder Krätze zu infizieren. Ein Paar um die 40, das wir in der Recherchenacht in einem Park trafen, wo es in einem selbst gebauten Zelt schläft, meinte, dass sie ihre Privatsphäre trotz Kälte nicht aufgeben wollen. In den Notunterkünften schlafen sehr viele Menschen auf engem Raum, es riecht nach Urin und Alkohol und man kann seine privaten Gegenstände nicht vor Diebstahl schützen.
Wieso gibt es mehr Obdachlose als früher?
Einer der Gründe ist die Situation auf dem deutschen Wohnungsmarkt: Es gibt immer weniger Wohnungen für Menschen mit niedrigem Einkommen. Viele deutsche Kommunen haben in den vergangenen Jahren Sozialwohnungen an Investoren verkauft, um Haushaltslöcher zu stopfen. Die Mieten in Deutschland sind stark angestiegen, während die Zahl der Sozialwohnungen von 1,7 Millionen auf 1,3 Millionen geschrumpft ist. Politik und Bauunternehmen schieben sich gegenseitig die Schuld für die Misere zu. Hinzu kommt, dass seit der Förderalismusreform 2006 nicht mehr der Bund, sondern die Länder für den sozialen Wohnungsbau verantwortlich sind. Sie bekommen Geld vom Bund (1,5 Milliarden Euro waren das 2016), allerdings ist dieses Geld nicht zweckgebunden, es muss also nicht für den Bau von Sozialwohnungen eingesetzt werden.
Paul Neupert von der BAG W weist noch auf ein weiteres Problem hin: „Ein großes Thema ist die steigende Zahl von EU-Migranten und deren Verarmung. Sie sind vom deutschen Sozialsystem ausgeschlossen und deshalb ganz besonders gefährdet, auf der Straße zu landen.“
Menschen aus Polen, Rumänien oder Bulgarien kommen mit der Hoffnung auf einen guten Job nach Deutschland. Diese Hoffnung erfüllt sich manchmal nicht, denn der Konkurrenzkampf im Niedriglohnsektor ist groß. Und wer aus dem Ausland hierher kommt, hat häufig kein soziales Netz vor Ort, bei dem er unterschlüpfen kann.
Besonders bitter: Menschen aus anderen EU-Staaten haben häufig keinen Anspruch darauf, in einer Notunterkunft zu schlafen, denn die Übernachtungsangebote sind bei EU-Migranten oft daran geknüpft, dass sie Sozialleistungen beziehen. In den Wintermonaten gibt es zwar teilweise Ausnahmeregelungen, aber generell versucht der Staat, keine Anreize dafür zu schaffen, dass arme Menschen aus dem EU-Ausland nach Deutschland kommen.
Welche Rolle spielen die ankommenden Flüchtlinge?
Einer unserer User wollte wissen, inwiefern es auf den Straßen einen Konkurrenzkampf zwischen Obdachlosen und Flüchtlingen gibt. Die Antwort ist gar nicht so einfach:
Im Vergleich zu den EU-Migranten spielen Flüchtlinge bei den Obdachlosenhilfen eine untergeordnete Rolle. Ankommende Flüchtlinge sind zwar häufig wohnungs-, aber nicht obdachlos, denn sie leben im Regelfall in einer Flüchtlingsunterkunft. Es kommt deshalb laut den Betreibern der Kältebusse Frankfurt und Berlin nur in Einzelfällen vor, dass die Obdachlosenhilfe sich um Flüchtlinge kümmert.
Sie stellen also keine direkte Konkurrenz zu den Obdachlosen dar. Durch die Ankunft der Flüchtlinge hat sich allerdings die Situation auf dem deutschen Wohnungsmarkt weiter verschärft. Nun konkurrieren noch mehr Menschen um günstige Wohnungen, als ohnehin schon. Das Bundesministerium für Bau schätzt, dass - unter anderem bedingt durch Zuwanderung - pro Jahr eigentlich 350.000 bis 400.000 neue Wohnungen in Deutschland gebaut werden müssten, um alle Menschen unterzukriegen. 2016 wurden laut einer Schätzung des Ifo-Instituts allerdings nur 300.000 Wohnungen neu gebaut, das macht mindestens 50.000 Wohnungen zu wenig.
Was viele Obdachlose als Ungerechtigkeit empfinden: Wohnungslose haben zwar ein Recht auf Unterbringung, aber viele Kommunen führen diese Pflicht nicht aus. Sie weisen Obdachlose zurück oder behaupten, es gäbe in ihrer Kommune keine Wohnungslosen, für die sie eine Unterbringung gewährleisten müssten. Das kritisiert auch die BAG Wohnungslosenhilfe.
Was sind mögliche Lösungen?
Ortrud Wohlwend von der Berliner Stadtmission wünscht sich eine Reform der schlecht funktionierenden Mietpreisbremse, noch mehr Schlafplätze für Obdachlose und ein Konzept für den Umgang mit den Obdachlosen aus dem EU-Ausland. Außerdem bemängelt sie, genau wie die BAG W, dass es keine gesicherten Zahlen zum Thema Obdachlosigkeit in Deutschland gibt. Um eine Situation zu verbessern, muss man sie schließlich kennen.
Neue Ideen wie das Model „Housing First“, das Wohnungslosen unbürokratisch eine Wohnung zur Verfügung stellt, könnten eine Möglichkeit sein, Obdachlose wieder ans Wohnen zu gewöhnen. Die herkömmlichen Programme in Deutschland zielen darauf ab, dass Obdachlose erst gewisse Kriterien, wie zum Beispiel Abstinenz, erfüllen müssen, um sich für eine Wohnung zu qualifizieren. Studien aus anderen EU-Ländern deuten aber darauf hin, dass bei Obdachlosen, die eine Wohnung ohne Bedingungen zur Verfügung gestellt bekommen, Kriminalität und Alkoholkonsum sinken und das auch eher langfristig Insgesamt, so die Studien, lassen sich so sogar Kosten sparen, denn die „Housing First“ Bewohner werden seltener krank, nehmen weniger häufig Rettungsdienste in Anspruch und landen seltener im Gefängnis.
Solche Konzepte sind allerdings nur dann umsetzbar, wenn es genügend Wohnungen gibt und damit sind wir wieder bei der Wohnungsmarktpolitik angelangt. Die BAG W fordert, dass die Hoheit über die Wohnungsmarktpolitik wieder bei der Bundesregierung anzusiedeln, da schon jetzt absehbar sei, dass die einzelnen Bundesländer die Herausforderung der Wohnungsnot wahrscheinlich nicht alleine bewältigen werden können.
*Lisa Altmeier und Steffi Fetz sind die Crowdspondent-Reporterinnen. Sie sind mit der Kamera durch Deutschland gereist, um unterschiedliche Menschen zu treffen und zu fragen:
Was ist los mit dir, Deutschland?
Warum sie diese Frage umtreibt? Steht hier. Und außerdem findest du dort alle schon erschienenen Filme der Reihe, sowie eine Liste aller Themen, um die es in den noch kommenden Folgen gehen wird.
Das Konzept beruht darauf, dass nicht eine Redaktion die Themen vorgibt, sondern die Zuschauer und Leser. Die Crowd ist der Boss. Deshalb freuen sich die Reporterinnen auch sehr über euer Feedback. Gerne in den Kommentaren unten. Oder an info@crowdspondent.de , per Facebook, Twitter, Snapchat oder wo auch immer ihr euch im Internet herumtreibt.