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Neu in der Berliner Republik

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Als Cornelia Hirsch das Menschenknäuel vor den Aufzügen sieht, beschließt sie, lieber die Treppe zu nehmen. In zehn Minuten wird Otto Schily die erste Sitzung des 16. Deutschen Bundestages eröffnen, sie will nicht zu spät kommen. Zehn Minuten sind nicht viel Zeit im riesigen Reichstagsgebäude, gerade, wenn man den Weg von den Fraktionsräumen hinunter in den Plenarsaal erst noch finden, dort seinen Platz noch suchen muss. Sie läuft los, ihre Schuhe klackern auf den Marmorstufen. Hätte man Cornelia Hirsch vor einem halben Jahr prophezeit, dass sie bald die jüngste neugewählte Abgeordnete im Bundestag sein würde, hätte die 25-Jährige gelacht. Vor einem halben Jahr war sie noch nicht einmal Mitglied einer Partei. Sie war eine Politikstudentin, die als Vorstand des „Freien Zusammenschlusses von Studierendenschaften“, eines Studentenverbandes, gegen Studiengebühren kämpfte und dazu ihr Studium in Jena unterbrochen hatte. 700 Euro bekam sie monatlich als Aufwandsentschädigung. Nun wird ihr die Bundestagsverwaltung jeden Monat das Zehnfache überweisen. Ihr Leben beginnt, sich unaufhaltsam zu verändern. Manchmal sagt Cornelia Hirsch, dass sie den ganzen Trubel der letzten Wochen „einfach nur krass“ findet. Die Wahlnacht verbrachte sie in Erfurt, auf einer Party der Thüringer PDS-Jugend. Sie war umgeben von den jungen Leuten, die sie überredet hatten, in einer Kampfabstimmung um den fünften Platz auf der Landesliste der Linkspartei.PDS in Thüringen zu kandidieren. Das war im Sommer, sie war gerade in die Partei eingetreten, hielt eine flammende Rede, bekam den Listenplatz knapp. Sie tingelte mit einem kleinen Wahlkampfbus durch Thüringen, stand in Fußgängerzonen, ließ sich auf Bühnen befragen. In der Wahlnacht schlief sie dann um drei Uhr morgens ein, hundemüde und voller Ungewissheit. Keine zwei Stunden später saß sie schon wieder vor dem Computer, die Spannung hatte sie geweckt. Auf der Internet-Seite des Bundestages fand sie bereits eine Liste der neuen Abgeordneten. Dort stand: Cornelia Hirsch MdB, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. „Ich habe das nicht geglaubt“, sagt sie. „Ich dachte, das ist bestimmt ein Fehler.“ Bald darauf kam per E-Mail die Einladung zur konstituierenden Fraktionssitzung der Linken. Wenn Cornelia Hirsch erzählt, klingt sie wie eine Studentin, nicht wie eine Politikerin. Sie wägt ihre Worte nicht sorgsam ab, sondern sprudelt auf jede Frage munter drauf los und lacht oft. Zum Beispiel, wenn sie von der Reaktion ihrer Mutter erzählt. „Sie hat gesagt: Du brauchst jetzt was Ordentliches zum Anziehen.“ Also ist Cornelia Hirsch, frisch gewählte Abgeordnete, zu H&M gegangen und hat sich was Ordentliches gekauft. Einen grauen Hosenanzug, für 70 Euro. „Hoffentlich überweist der Bundestag bald die erste Abgeordneten-Diät“, sagt sie. „Ich bin ziemlich pleite.“

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

In ihrem neuen Hosenanzug sitzt Cornelia in der Fraktionssitzung der Linken, in einem engen Raum mit dunkelgrauem Teppich, zweite Reihe, ganz rechts. Es ist der Montag vor der ersten Sitzung des neuen Bundestags. Die 54 Abgeordneten diskutieren über ihr 100-Tage-Programm, die Uhr zeigt 13.09 Uhr, als Cornelia den Finger hebt. Es ist ein bisschen wie in der Schule: Oskar Lafontaine, der Fraktionsvorsitzende, ruft die Abgeordneten mit ihren Vornamen auf. „Cornelia“, sagt Lafontaine. Sie drückt eine Taste an ihrem Tischmikrofon, es beginnt, rot zu leuchten. „Ich finde die Formulierung bei Punkt neun bedenklich“, fängt sie an, „die Frage würde ich gerne breiter angehen.“ Sie redet schnell, die Wörter purzeln aus ihrem Mund, sie hat viel zu sagen. Es geht um Bildungspolitik. Ihr Gebiet. Sie will bildungspolitische Sprecherin der Fraktion werden. Zwei Minuten erklärt sie, was man an Punkt neun alles ändern müsse, dann ruft Lafontaine kommentarlos den nächsten Vornamen auf. Ein paar Minuten dreht sich die Diskussion mal um diese, mal um jene Formulierung, bis Gregor Gysi, der andere Fraktionsvorsitzende, genug hat. „Ich denke, wir sollten das jetzt hier bald beenden.“ Zum Vorschlag von Cornelia, betreffend Punkt neun, sagt er: „Lasst das mal, das ist nicht der wichtigste Punkt.“ Dann ist die Diskussion beendet. „Ein bisschen frustig“, findet es Cornelia, wenn sie sich mit ihren idealistischen, manchmal hochfliegenden Plänen nicht durchsetzen kann. Schon in der allerersten Fraktionssitzung hatte sie vorgeschlagen, den Fraktionsvorsitz zwischen Männern und Frauen wechseln zu lassen, wegen der Geschlechtergerechtigkeit. Mit dieser Idee stand sie relativ alleine da, manche wunderten sich über die Unbekümmertheit, mit der sie sich gegen fast alle anderen stellte, allen voran gegen Gysi und Lafontaine, die davon ausgegangen waren, dass selbstverständlich sie Fraktionsvorsitzende würden. Fragt man Ulrich Maurer, den parlamentarischen Geschäftsführer der Linksfraktion, nach Cornelia Hirsch, dann sagt er: „Sie ist ganz schön aufmüpfig. Sie ergreift oft das Wort, das ist für die Führung dann nicht immer bequem.“ Wie ein Lob klingt das nicht. Überzeugungen haben immer einen Ursprung, bei Cornelia liegen sie wohl in der Familie: „Meine Mutter war frauenpolitisch sehr aktiv.“ Ihre Eltern, zwei Lehrer aus Bickelsberg am Rand der Schwäbischen Alb, nahmen sie als Kind mit zu Anti-Atom-Demonstrationen und Friedensmärschen. „Ich habe mich schon in der Schule links gefühlt.“ Sie ließ sich anstecken von der Aufbruchstimmung um eine neue Linkspartei, nachdem Bundeskanzler Schröder die Vertrauensfrage gestellt hatte. „Ich will mitgestalten, was jetzt passiert“, sagt sie. Ein Problem damit, in die Nachfolgepartei der SED einzutreten, hatte sie nicht, im Gegenteil: Mit ihrem Beitritt will sie der Partei etwas von ihrem Alte-Herren-Image nehmen. „Mir kann man nicht vorwerfen, dass ich einen Unrechtsstaat verteidigt habe“, sagt sie. Sie ist in Stuttgart geboren. Stört es sie gar nicht, dass in der Linksfraktion angeblich mehrere ehemalige informelle Mitarbeiter der Stasi sitzen? „Man sollte den Leuten eine Chance geben, wenn sie sich auf Diskussionen einlassen“, sagt Cornelia Hirsch. „Wer bin ich, wie kann ich Richterin sein über einen Menschen?“ Sie ist großzügig in dieser Hinsicht. Privatleben hat Cornelia Hirsch kaum mehr seit der Wahl. Entweder hält sie sich in Fraktions- und ArbeitskreisSitzungen auf, oder sie organisiert ihr künftiges Leben als Abgeordnete. Eine erste Ahnung, wie arbeitsreich dieses Leben sein wird, erhält Cornelia immer dann, wenn sie in ihr Postfach im Bundestag schaut. Gewaltige Papiermengen erwarten sie dort. Einladungen und kleine Geschenke sind darunter, wie ein Berlin-Stadtplan, mit freundlichen Grüßen überreicht von der deutschen Zigarettenindustrie. Aber auch Bewerbungsmappen, über 40 allein in den ersten Wochen. Sie zeigen, dass Cornelia jetzt nicht mehr Studentin ist, sondern Chefin. Wie alle Abgeordnete bekommt sie monatlich Diäten von rund 7000 Euro und eine Kostenpauschale von 3590 Euro. Zusätzlich kann sie noch einmal 10 660 Euro für Mitarbeiter ausgeben. „Die Ansage war: Sucht euch Mitarbeiter, gründet ein Wahlkreisbüro“, sagt sie. „Da war ich am Anfang ein bisschen überfordert.“ Doch die Bundestagsverwaltung hilft gerne. Sie hatte Infotische im Reichstagsgebäude aufgebaut, ein bisschen wie am ersten Tag in der Universität. Cornelia Hirsch bekam eine Menge Informationen in die Hand gedrückt, darunter das Einsteiger-Set „Hinweise für die Einstellung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern“, komplett mit Gehaltsempfehlungen und Arbeitsverträgen. Das hat sie sich genau durchgelesen, dann setzte sie sich mit ihren Bekannten aus dem Studentenverband zusammen. Zwei ihrer Mitarbeiterinnen dort werden gerade mit dem Studium fertig, Cornelia versteht sich gut mit ihnen, also stellte sie beide ein. „Ich wollte zwei Frauen, die sich im feministischen Bereich auskennen.“ Fehlen nur noch die Räume. Drei Büros im Bundestags-Gebäude wird Cornelia bekommen, so viel weiß sie schon. Den ersten kann sie vielleicht schon diese Woche beziehen, die beiden anderen erst im November. Bis dahin muss sie sich weiterhin in Cafés treffen, wenn sie etwas besprechen will. Die Digitaluhr neben dem großen Bundesadler zeigt fünf vor elf, als Cornelia Hirsch zum ersten Mal in ihrem Leben den Plenarsaal des Bundestags betritt. Sie hat sich beeilt. Als eine halbe Stunde später der Schriftführer ihren Namen verliest, springt sie auf, läuft zu einer der weißen Wahlkabinen am Rand, trifft ihre Entscheidung bei der Wahl des neuen Bundestagspräsidenten und trägt ihre Stimme quer durch den Saal zu einer gläsernen Urne in der Mitte. Jetzt, mit dieser Tat, ist sie wirklich angekommen im Bundestag – ihre erste Wahl. Auf dem Rückweg bleibt sie stehen, mitten im Gang. Minutenlang steht sie da, alle müssen ihr ausweichen. Cornelia betrachtet das Gewimmel ihrer Kollegen, sieht ein paar Meter links Angela Merkel, wie sie an ihrem Platz sitzt und Abgeordnete zum Gespräch empfängt. In diesem Moment, sagt Cornelia später, habe sie erst richtig realisiert, plötzlich mittendrin zu stehen in diesem Saal, dem Saal des deutschen Parlaments, den jeder aus dem Fernsehen kennt, wo er so groß wirkt. In Wirklichkeit, sagt sie, sei er aber viel kleiner.

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