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Wie Victim Blaming sich bei Gewaltopfern einbrennt …

Illustration: Katharina Bitzl

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In den vergangenen Wochen wurde viel über den Fall „Brock Turner“ diskutiert. Der junge US-Student wurde zu nur sechs Monaten Haft verurteilt, nachdem er eine Frau vergewaltigt hatte. Sein Opfer, eine 23-jährige Frau, veröffentlichte daraufhin den Brief an den Täter, den sie vor Gericht verlesen hatte. Sehr genau beschreibt sie darin, was sie nach der Vergewaltigung fühlte. Angst, Scham, das Gefühl, den eigenen Körper verlassen zu wollen. Mechanismen, die bei vielen Frauen nach sexualisierter Gewalt ablaufen. Das weiß man, davon hat man gelesen. Dieses Mal wurde es jedoch so radikal offen und gut beschrieben, dass es einen Nerv traf. Die Klägerin beschreibt auch, wie sich die Argumentation vor Gericht um ihren Alkoholkonsum, ihre Kleidung, ihr Liebesleben und ihre Sexualität drehte. Sogenanntes „Victim Blaming“ wird hier in seiner drastischsten Ausführung dokumentiert. Die Reaktionen waren empört und ich würde sagen, auch überrascht.

Dabei sind Victim Blaming und Rape Culture tief in der Gesellschaft verankert, auch bei den Opfern brennen sie sich ein. Wie sehr, das weiß man wohl erst, wenn man selbst von sexualisierter Gewalt betroffen ist. Wie ich.

Dass Frauen aus diesem Grund an sexuellen Übergriffen mindestens mitschuldig sind, hat sich fleißig in mein Bewusstsein gegraben.

Ursprünglich wollte auch ich diesen Text mit einer Episode über mein falsches Trinkverhalten beginnen. Dass Frauen aus diesem Grund an sexuellen Übergriffen mindestens mitschuldig sein sollen, hat sich fleißig in mein Bewusstsein gegraben. Aber das ist falsch. Deshalb beginne ich diesen Text mit einer Feststellung:

Ich wurde Opfer eines sexuellen Übergriffs. Und das hat etwas Seltsames mit mir gemacht. Mechanismen ausgelöst, von denen mir mein Verstand immer gesagt hatte, dass sie falsch sind. Und trotzdem waren sie da. Ich werde nicht erzählen, was genau passiert ist, weil dann Leute kommen, die sagen werden "Das war aber überhaupt kein sexueller Übergriff". Im juristischen Sinne ist das in meinem Fall wahrscheinlich so. Da ich mich aber nicht vor Gericht befinde, sehe ich keinen Grund, die Deutungshoheit über diese Situation abzugeben. Mir leuchtet ein, warum man vor Gericht, wenn es darum geht, Menschen zu bestrafen, nicht mit Subjektivität argumentieren kann. Ich fände es jedoch absurd, wenn Außenstehende entscheiden wollen, ob ich berechtigt bin, mich in meiner Intimität verletzt zu fühlen.

Ich habe einen Übergriff auf meine sexuelle Selbstbestimmung und eine Verletzung meiner Würde erlebt – das will, kann und brauche ich nicht zu beweisen. Da ich auch nicht motiviert bin, noch einmal entblößt zu werden oder voyeuristische Begierden zu befriedigen, muss diese Aussage reichen: Eine Person, die selbst vollkommen klar war, nutzte aus, dass ich es nicht war. Ich wurde nicht vergewaltigt und im Sinne des deutschen Gesetzes war es wahrscheinlich nicht einmal "sexueller Missbrauch". Meine körperliche und geistige Integrität wurden dennoch verletzt.

Seit dieser Erfahrung glaube ich, in Ansätzen nachvollziehen zu können, was in Vergewaltigungsopfern vorgeht. Ich habe einen Geschmack davon bekommen, wie es ist, Angst vor dem eigenen Körper zu haben. Ihn am liebsten verlassen zu wollen, weil man sich nicht mehr sicher ist, was mit ihm passiert ist. So wie es Brock Turners Klägerin beschreibt. Ich fühlte mich schmutzig, schuldig, beschämt.

Ich glaube, man wird durch eine solche Tat mit in den Schmutz gerissen

Ich versuchte über das, was mir passiert war, zu lachen. Ich war wütend auf mich selbst, "mich in so eine Situation gebracht zu haben". Oft liest man, dass sich Opfer für eine Tat selbst die Schuld geben. Das mag für viele unverständlich und unbegründet klingen. Für mich klang es das auch immer. Und dann tat ich es trotzdem. Ich glaube, man wird durch eine solche Tat mit in den Schmutz gerissen. Man wird ungefragt Teil von etwas Unmoralischem, Ekligem. Und egal, wie wenig man es wollte, man hängt mit drin. Etwas von dem Schmutz bleibt an einem kleben. Ich glaube, das ist (selbstbetriebenes) "victim blaming". Eine falsche Reaktion auf den Schmutz, der an dem Opfer kleben bleibt.

Ich hielt den Übergriff zunächst geheim. Ich schreibe diesen Artikel unter einem Pseudonym, weil das Attribut "Opfer eines sexuellen Übergriffs" alle anderen Charakteristika einer Person auszulöschen scheint. Dabei gibt es wirklich Interessanteres über mich zu wissen. Und ich möchte nicht, dass meine Mutter davon erfährt. Sie würde den Übergriff auf meine (zu) offene Art zurückführen und sich fortan noch mehr deswegen sorgen. Als ich ihr einmal von einer verbalen sexuellen Belästigung erzählte, sagte sie, dass ich wahrscheinlich "etwas ausstrahlen" würde, das mich für "so etwas" (also Grenzüberschreitungen) zugänglich erscheinen lässt. Solche Ansichten hat sie bestimmt nicht, weil sie eine schlechte Mutter ist – im Gegenteil, sondern weil auch sie in einer Gesellschaft lebt, die Schuld noch immer bei den Opfern sucht.

Ich ging nicht zur Polizei, da ich keine Beweise hatte und das Gesetz mir ja eh nicht geholfen hätte. In Deutschland wird ein verbaler Einspruch nicht automatisch als Ablehnung gewertet. Mit alkoholbedingter Gleichgültigkeit, beziehungsweise Wehrlosigkeit hätte ich da wohl schlechte Karten gehabt. Ich redete stattdessen mit Freundinnen. Menschen an dieser Erfahrung teilhaben zu lassen, machte den Übergriff trivialer, ließ ihn seine Macht über mich verlieren. Ich suchte die Verantwortung nicht mehr bei mir, sondern projizierte meine Wut dorthin, wo sie hingehörte: auf den Täter. Mit der Zeit fühlte ich mich weniger schmutzig, weniger angetastet. Das Gefühl verblasste. Ich hatte Glück gehabt, dieses Mal heilte die Zeit meine Wunden.

Als ich den Brief der anonymen Frau an Brock Turner las, erinnerte ich mich allerdings an die gruseligen Gefühle, die ich nach dem Übergriff erlebt hatte. Und auf einmal kam wieder diese Angst hoch, dass mir auch so etwas "widerfährt" wie ihr. Aus dem Brief las ich heraus, dass diese Frau eine starke, witzige, warmherzige und intelligente Frau ist, die durch die Vergewaltigung um all diese Eigenschaften stark kämpfen musste.

Und dass ich das vielleicht auch eines Tages muss, macht mir Angst.

Was mich aber noch mehr schockiert, ist, wie sehr dieser Brief einschlug. Damit wurde klar, wie wenig sichtbar die Auswirkungen dieser so alltäglichen Übergriffe für gewöhnlich in der öffentlichen Debatte sind. Es muss ein extremer Fall kommen, damit sie thematisiert werden.

Eine Vergewaltigung, die von Menschen verübt wird, erscheint mir seitdem wie eine Naturkatastrophe

Brock Turners Klägerin und ich sind dabei zwei von Millionen von Frauen, von denen die meisten ihre Verletzungen ganz im Stillen davontragen. Und obwohl das eine Ungerechtigkeit ist, die mich sprachlos macht, ertappte ich mich nach dem Brock-Turner-Brief bei einem perversen Gedanken: Dass der Respekt von Intimität und körperlicher Unversehrtheit für Frauen nicht selbstverständlich ist. Dass ich eigentlich privilegiert bin. Dass ich Glück hatte als Frau noch nicht solche Schäden wie die Stanford-Überlende erlitten zu haben.

Verbunden ist dieser Gedanke mit der Angst, dass meine "Glückssträhne" irgendwann einmal abreißt. Angst, dass eine Vergewaltigung beziehungsweise "20 minutes of action", wie der Vater von Brock Turner die Tat seines Sohnes beschrieb, das Leben, das ich jetzt führe, für immer unmöglich macht. Dass auch mir meine Energie, Intimität, Warmherzigkeit und Unabhängigkeit genommen werden. Wie es die Klägerin beschreibt. Dass dieses dunkle, zerrissene Gefühl, auf das ich einen Vorgeschmack bekam, sich irgendwann einmal ganz in mir ausbreitet.

Eine Vergewaltigung, die von Menschen verübt wird, erscheint mir seitdem wie eine Naturkatastrophe. Sie überkommt Frauen, einfach nur, weil sie Pech hatten. Oder als Quittung, weil sie nicht gut genug auf sich achten: Rape culture und victim blaming sind keine Kampfbegriffe, sie sind die Realität. Sie verbreiten sich über Gesetzestexte, gesellschaftliche Toleranz und psychische Mechanismen – hin zu Personen verschiedener Geschlechter und den Opfern selbst. Es ist traurig, dass dieser Text den Fall Brock Turner als Aufhänger braucht. Die Allgegenwart einer himmelschreienden Ungerechtigkeit sollte eigentlich Aufhänger genug sein.

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