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Dokumentation aus Sicht eines Flüchtlings
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Man sollte ja meinen, die Erkenntnis „Mit Flüchtlingen sprechen ist besser als über sie“ habe sich mittlerweile durchgesetzt. Wer sich das Programm der diesjährigen Berlinale anguckt, könnte trotzdem wieder zweifeln: „Recht auf Glück“ ist das Motto, überall kann gespendet werden, George Clooney trifft Angela Merkel und Ai Weiwei installiert Schwimmwesten am Gendarmenmarkt. Und ja, es gab auch Freikarten für Flüchtlinge, eine Gruppe betreibt sogar vor der Berlinale einen kleinen Foodtruck. Das ist alles sehr gut und sehr richtig.
Aber was man dann halt doch vermisst, ist die Stimme eines Flüchtlings. Einer, der in Worte oder Bilder fasst, wie er sich fühlt. Welch Glück also, dass Mittwochnacht der Film „Les Sauteurs – Those who jump“ seine Premiere auf der Berlinale hatte.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Darin haben die beiden Regisseure Moritz Siebert und Estephan Wagner nämlich einem Flüchtling nämlich nicht nur eine Stimme gegeben – sondern direkt eine Kamera. Alles Material aus dem Film stammt von Abou Bakar Sidibé, einem 1985 in Mali geborenen Englisch-Lehrer. In seiner Heimat ist seit vielen Jahren Krieg, zum Zeitpunkt der Kameraübergabe im Sommer 2014 lebte er seit 14 Monaten in einem Camp auf dem Berg Gurugu in Marokko. Wobei „Camp“ nach mehr klingt als es ist: Viele Menschen dort schlafen unter freiem Himmel, es gibt keinen Strom, kein Wasser. Dafür einen Blick auf Melilla, eine spanische Enklave auf nordafrikanischem Boden. Dazwischen: drei Zäune. Über die muss Abou es schaffen, wenn er seinen Traum von einem Leben in Europa verwirklichen will. Gemeinsam mit vielen anderen jungen Männern wartet er also auf einen günstigen Moment – und scheitert immer wieder am Zaun. Meistens, weil die Polizei ihnen dort brutal zuvor kommt – mehrere Wärmebildkameras am Zaun überwachen jeden Schritt, den ein Mensch dort tut.
Was ein bisschen nach einer Fabel klingt, hat sich den Regisseuren zufolge tatsächlich so zugetragen: Alle Bilder im Film stammen von Abou, den die beiden Regisseure mithilfe eines "Stringers" (einem freiberuflichen Journalisten vor Ort) in Marokko eher zufällig als Kameramann ausgewählt haben. Was er filmt und wie, blieb ihm frei überlassen. Die Regisseure bekamen das Material online zugeschickt. Zwischendurch gab es oft wochenlang keinen Kontakt.
Und auch, wenn das Ende des Films natürlich nicht verraten werden soll: Am Tag nach der Premiere in Berlin sitzt Abou nicht auf dem Berg Gurugu, sondern zwischen den beiden Regisseuren in einem Interviewraum am Potsdamer Platz. Er lebt in der Nähe von Kempten, wartet dort auf sein zweites Interview für den Asylantrag. Dass der Film es auf die Berlinale geschafft hat, ist für alle Beteiligten ein Riesenerfolg. Denn natürlich war ein Film wie dieser für alle ein großes Wagnis. Am meisten allerdings für Abou.
„Wir hatten wahnsinnig Glück, dass die Kamera zu Abou kam. Denn wir haben schnell gemerkt, dass er seinen eigenen Kopf hat und wie gut das für den Film war – dass er eben nicht das gedreht hat, was wir uns vorher in unseren Klischees vorgestellt haben“, sagt Regisseur Moritz Siebert. Abou selbst sagt in dem Film über seine Anfangsmotivation sogar ganz offen: „Zunächst habe ich überlegt, die Kamera direkt zu verkaufen. Dass ich dann auch noch regelmäßig Geld fürs Drehen bekommen habe, hat mich davon abgehalten.“
Es ist eine Stelle, an der die Zuschauer lachen. Dann sieht man, wie Abou sich beim Durchwühlen von Mülltonnen nach etwas Essbarem filmt. Und schon ist der Satz gar nicht mehr so lustig. Abou selbst sagt, mit der Zeit habe sich seine Motivation verschoben: „Die Kamera wurde wie ein Freund für mich. Etwas, mit dem ich die Zustände vor Ort dokumentieren und Schönheit erschaffen kann.“ Tatsächlich sieht man das dem Film an. Wo anfangs noch wilde Schwenks und körnige Teleaufnahmen dominieren, kommen später immer mehr langsame Kamerafahrten und liebevolle Bildaufbauten dazu.
Und tatsächlich hat Abou, wenn möglich, immer draufgehalten. Wie sie sich aus Eimern waschen. Durch ein Kakteenfeld zum Zaun kriechen. Ihr Camp nach einer Polizeirazzia völlig niedergebrannt vorfinden. Einem Vater auf der Mailbox mitteilen, dass sein Sohn beim Fluchtversuch gestorben ist.
Vielleicht ist der Film der einzige Weg, um uns, die weich auf ihren Kinosesseln sitzen, klarzumachen, was „Grenzsicherung“ bedeutet.
„Wir hatten mit Abou abgesprochen, dass er sich nie für den Film in Gefahr bringen darf. Denn allein schon, wenn die Polizei eine Kamera bei ihm findet, könnte das böse enden. Und dann bekommst du wieder Material und siehst all diese Bilder und dein Herz rast, weil du begreifst: Sie haben wieder versucht über den Zaun zu kommen. Und er hat sie da tatsächlich dabeigehabt“, sagt Estephan Wagner. Somit war bei dem Film auch irgendwann nicht mehr das größte Wagnis, dass die Kamera kaputt geht oder das Material einfach schrott ist. Sondern eher die Frage, ob der Protagonist das überhaupt überlebt.
Ziemlich viel Ballast für einen Dokumentarfilm. Aber vielleicht auch der einzige Weg, um uns, die hier weich auf ihren flauschigen Kinosesseln sitzen, klarzumachen, was „Grenzsicherung“ bedeutet. „Das klingt als Wort immer so harmlos. Aber da in Melilla kam man jetzt schon sehen, was Zäune bewirken. Dass „Grenzsicherung“ auch bedeutet, Gewalt auszuüben gegen Menschen, die sie überqueren wollen. Und dass das bereits jetzt an den Grenzen geschieht“, sagt Regisseur Moritz Siebert. Dass gerade erst Österreich und Mazedonien angekündigt haben, ihre Grenzanlagen weiter ausbauen zu wollen, gibt dem Film eine besondere Aktualität, so zynisch das auch klingen mag.
Weshalb Abou genau Mali zurücklassen musste, kann er wegen seines laufenden Asylverfahrens nicht erzählen. Aber obwohl er das Leben auf dem Gurugu als Hölle beschreibt, war umkehren für ihn nie eine Option. „Denn wenn ich dann von anderen gehört hätte, die es geschafft haben, hätte ich mir ewig vorgeworfen, es nicht genug versucht zu haben. Und auf dem Gurugu hatte ich zumindest die Hoffnung, dass dort drüben ein besseres Leben auf mich wartet. In Mali hatte ich das nicht.“
In dem Film sagt Abou einmal, nachdem einer seiner Freunde ums Leben gekommen ist, den schönen Satz „Mir bleibt gar nichts anderes übrig als mir Europa als eine Art ‚El Dorado‘ vorzustellen, das es wert ist, diesen Kampf und diesen Schmerz immer wieder auf mich zu nehmen.“ Sätze wie dieser werden dann mit den Aufnahmen der Wärmebildkamera vom Grenzzaun gegengeschnitten. Darauf sind die Flüchtlinge nur als viele helle Punkte zu erkennen, die in ihrer dunklen Umgebung aufleuchten. Ohne Filme wie „Les Sauteurs“ wird niemand wissen, dass es nicht nur Punkte sind. Sondern Menschen wie Abou.