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Was mir das Herz bricht: ungeteilte Begeisterung
Es gibt manchmal Nächte, nach denen man sich frühmorgens die Treppe in den zweiten Stock hochschleppt, mit wundgetanzten Füßen, wummernden Ohren und der Nummer des Spanisch-Tutors mit Kugelschreiber auf dem Handgelenk, und dann setzt man sich auf den Balkon in die frische, stille Morgenluft und fragt sich: Was bitte war das für eine Nacht?
Aber wenn wir ehrlich sind, kommt das nicht allzu oft vor. Viel häufiger sind diese Abende, an denen man um halb zwei zurück in seine Wohnung schlurft, leicht angeschwipst, aber immer noch kontrolliert genug, um sich fix eine dreiviertelwarme Wärmflasche zu machen. Vielleicht muss man am nächsten Tag früh raus, vielleicht war in der Kneipe einfach alles gesagt – jedenfalls ist man nun daheim und denkt sich: Das war ein netter Abend.
Letztens aber, an genau so einem Durchschnittsabend, hatte eine Freundin Besuch dabei, eine alte Schulfreundin. Sie war sehr nett, ein wenig schüchtern, und schnell fiel auf, dass ein halber Liter Rotbier bei ihr deutlich mehr anrichten konnte als bei uns. Als die Kneipe zumachte, gingen wir noch auf einen Absacker zu einem Freund hoch, tranken jeder zwei Pfefferminzschnäpse und machten uns auf den Heimweg. Es war kalt, wir nahmen die Bahn, und die Freundin meiner Freundin entschied nervös, die zwei Tramstationen schwarz zu fahren.
Das wäre nicht weiter erwähnenswert gewesen, hätte ich nicht bereits auf der Fahrt dieses irre Funkeln in ihren Augen erkennen können, dass sich tatsächlich drei Minuten später bestätigte: Als wir die Haltestelle erreichten und die Türen sich öffneten, stürzte sie aus der leeren Bahn, strauchelte auf dem Kopfsteinpflaster, fing sich knapp und rannte mit hektischen Schritten in irgendeine Richtung, bis sie sich zu uns umdrehte und euphorisch rief: „Oh mein Gott, Leute! Was für ein VERRÜCKTER Abend!“
Die anderen lachten betreten und ich sah das Unbehagen in ihren Gesichtern, das auch in mir geschlummert hatte und nun mit diesem einzigen Satz an die Oberfläche gezerrt wurde. Mein Herz brach hinter dieser Haltestelle, gleich bei der Unterführung, auf dem Weg, den ich jeden Abend gehe. Genau das war der Punkt: Für mich war das ein Abend von vielen gewesen, ein gemütliches Treffen mit guten Freunden, aber auch ein Treffen, an das ich mich in sechs Monaten nicht erinnern würde. Zu wissen, dass zwei Bier, zwei Schnäpse und ein paar Minuten Schwarzfahren diese Nacht für jemanden zu der wildesten überhaupt machen konnten, machte mich unfassbar traurig. Denn sie war allein damit, allein mit der Euphorie.
Wenn man overdressed ist, wirkt das Outfit, als habe man höhere Erwartungen an den Abend gehabt als alle anderen
Diese alleinige Begeisterung gibt es ja immer wieder, und jedes Mal zerbrösle ich innerlich ein wenig. Wenn man zum Beispiel zum „besten Asiaten überhaupt“ mitgenommen wird, aber das Essen dort eigentlich schmeckt wie in jedem anderen Take-Away-Laden. Wenn jemand sagt, er wohne in der allerschönsten WG, der Mitbewohner sei schließlich Grafikdesigner – und dann sieht alles irgendwie nach Kunsttherapie aus. Diese ungeteilten Superlative machen mich betroffen, jedes Mal. Sie führen dazu, dass ich über das Leben fremder Menschen urteile, davon ausgehe, dass es darin eher langweilig zugeht, und als einzige Basis dafür nehme ich ihre Begeisterung – die doch eigentlich etwas Gutes ist!
Ich glaube, das ist auch der Grund, warum es so unangenehm ist, overdressed zu sein: Weil das Outfit dann immer so wirkt, als habe man höhere Erwartungen an den Abend gehabt als alle anderen. Und das vielleicht, weil man sonst nichts erlebt und all seine Wünsche auf die eher beschauliche Abendplanung projiziert. Hohe Schuhe in der Eckkneipe – Knack! Glitzerlidschatten an einem Mittwoch mit Spätibier – Knack!
Wer Dinge toller findet als ich, so denke ich, der muss insgesamt weniger haben: weniger Spaß, weniger ästhetisches Empfinden, weniger Freunde. Oft genug sicher eine fehlerhafte Rechnung – mein Herz bricht es trotzdem.