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Eine Ode ans Herzkasperlzelt

Collage: jetzt.de

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Das Oktoberfest ist für viele Münchner eine Veranstaltung mit großem „muss ja“-Charakter: Man geht hin, weil es eh schon da ist, aber nicht unbedingt mit guter Laune, denn man weiß: Es wird anstrengend, voll, laut, es wird vor besoffenen Menschen nur so wimmeln und die Musik wird kaum auszuhalten sein.

Aber, und das hört man ständig von begeisterten Anhängern des Festes, wenn man mit den richtigen Menschen unterwegs ist, wenn man das richtige „mind set“ hat, wenn man sich einfach mitreißen lässt, ohne Widerstände, dann wird das schon saulustig. Ehrlich! Versprochen! Und das stimmt natürlich: Wenn man sich die Veranstaltung lange genug schönsäuft, wird es fast immer lustig. Zum Glück ist ja auch immer genug Bier vorhanden.

Aber jetzt kommt das absolut Irre: Was, wenn ich euch erzählen würde, dass es auch anders geht? Dass man sich die Wiesn nicht schönsaufen muss, sondern dass ein Ort existiert, wo es das Oktoberfest in schön gibt?

Ähnlich wie bei Asterix und Obelix gibt es auf dem riesigen Gelände der Theresienwiese ein winziges Dorf, auf dem zur Überraschung der ganzen Welt oder zumindest der alteingesessenen Wirtefamilien, nicht alles komplett der Gewinnmaximierung untergeordnet ist. Wo man Platz hat, weil die Tische großzügig gestellt sind, wo die Tiere auf dem Teller ein erträgliches Leben hatten und die Generationen beisammensitzen, ohne sich gegenseitig aus- oder eins über zu ziehen. Wo das musikalische und kulturelle Programm so aufwändig ist, dass die Kosten teilweise die Einnahmen übersteigen. Weshalb die Wirte der Zelte demnächst womöglich von der Stadt München mit einem „Kultur-Fuchzgerl“ subventioniert werden, damit die Qualität des Programms weiter auf diesem hohen Niveau stattfinden kann.

In genau diesem gallischen Dorf, besser bekannt als „Oide Wiesn“, steht ein Zelt, in dem all das fehlt, was auf dem Rest der Festwiese nervt. Schon beim Reinkommen bemerkt man den Unterschied: Im Vorraum des Zeltes gibt es ein Standl, auf dem man Masskrüge, Buttons und Postkarten kaufen kann – und keinen einzigen Masskrug-Hut. Ist man erst mal im Zelt drin, bemerkt man erstaunt: Man hat genug Platz zum Atmen und kann sich bewegen, ohne bei jedem Schritt ein paar Masskrüge vom Nebentisch zu wischen. Denn die Tische sind für ein Bierzelt recht sparsam aufgestellt – in einem Halbkreis um die Bühne. Niemand tanzt auf den Tischen, denn wer sich von der Musik mitreißen lässt, der hat Platz genug auf der Tanzfläche vor der Bühne, die das Herzstück des Zeltes darstellt.

Musik spielt in diesem Zelt die Hauptrolle. Zuständig für das Programm ist Martin Jonas, der bis vor ein paar Jahren das Kulturprogramm im Theater im Fraunhofer verantwortete (wiederum die Wirtschaft, die der Herzkasplerzelt-Wirt Beppi Bachmaier während des restlichen Jahres betreibt). Und das ist vermutlich das eigentliche Geheimnis dieses Zeltes: dass da ein Mensch Bands bucht, der Musik tatsächlich schätzt und kennt und sie nicht danach auswählt, wie man die Gäste maximal ausrasten lassen kann.

Das Herzkasperlzelt ist Zeugnis für Bachmaiers und Jonas’ Verständnis bayerischer Kultur und Lebensart: Die Abwesenheit von Kitsch und Nostalgie. Die Konzentration auf das Widerborstige und Schräge. In dem Selbstverständnis der Verantwortlichen wird im Herzkasperlzelt Musik aufgespielt, neue und alte Volksmusik von Künstlern, die sich den jeweiligen Moden verweigern und ihren eigenen Gesetzen folgen.

Jonas ist in der bayerischen Musikszene bestens vernetzt und bucht Bands, die aus einer gar nicht so kleinen Subkultur in diesem Freistaat stammen: Bands aus dem Umfeld des „Gutfeeling“-Labels wie die „Hochzeitskapelle“ der Acher-Brüder (Notwist), die Landlergschwister, der Niederbayerische Musikantenstammtisch, Attwenger, die Münchner Rapperin Fiva oder Kofelgschroa. Man muss all diese Bands nicht kennen. Aber wenn man sich ein wenig für Subkultur in München und Bayern interessiert, dann kennt man die Hälfte sowieso und ahnt, dass der Rest ebenfalls einen Besuch wert ist. Dazu kommt ein ziemlich bunter Querschnitt all dessen, was man im weitesten Sinne als Volksmusik verstehen kann: Brass Bands aus New Orleans ebenso wie texanisch-bayerische Combos oder Kärntner Quetschen-Techno.

Das Herzkasperlzelt fühlt sich ein bisschen so an wie dein Lieblingsclub während dem Rest des Jahres: Du gehst hin, kennst die Hälfte der Leute mindestens vom Sehen. Die Kellner kennst du als regelmäßiger Ausgänger aus anderen Münchner Bars und Wirtschaften. Du weißt: Auch wenn die Musik vielleicht nicht deine ist, deine Freunde heute anderweitig beschäftigt sind oder du einen miesen Tag hattest: Es wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein sehr guter Abend werden.  

Und klar, man kann dort ebenso gut eskalieren wie in den anderen Zelten auch. Aber es ist nicht die Bedingung für einen gelungenen Abend. Sondern nur das Extra oben drauf.

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