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Wolfgang Benz im Interview
Syrien brennt, in der Türkei vermuten viele derzeit den Aufbau einer Diktatur und die Rechtspopulisten in Europa stehen so gut da, wie schon lange nicht mehr. Denken Sie da manchmal „Das kommt mir alles sehr bekannt vor“?
Absolut. Aber dieses Gefühl hat der Historiker wahrscheinlich häufiger als andere Menschen. Konzentrieren wir uns auf den Rechtspopulismus: Aussagen wie „So viel Rechtsextreme gab es noch nie“ oder „Die Antisemiten werden immer frecher“ werden immer wieder neu entdeckt. Dabei sind sie inhaltlich nicht richtig. Rechtsextreme und Antisemiten gab es immer und sie waren auch immer frech. Der Rechtsextremismus war in der Bundesrepublik 1954 erneut auf seinem Höchststand. Das haben wir nur vergessen. Als Historiker fragt man sich dann natürlich: Haben die Leute aus der NS-Zeit nichts gelernt? Wissen sie nicht, wohin das führt?
In einem Interview mit dem Deutschlandfunk haben Sie vergangenes Jahr gesagt „Aus der Geschichte lernen die Leute eh nichts“. Das klingt hoffnungslos. Ist das wirklich Ihre Meinung?
Das war überspitzt formuliert. Ich wollte damit ausdrücken, dass man schwer im Verhältnis eins zu eins aus der Geschichte lernen kann. Wenn hier unten vor dem Haus ein Menschenauflauf stattfindet und die Menschen aufeinander einbrüllen, kann das der Beginn einer neuen, rechtsextremen Sekte werden. Ich kann das in diesem Moment aber noch nicht erkennen. Die Justiz wird ebenfalls nicht beweisen können, dass da gerade ein neuer Faschismus entsteht. Zudem leben wir in einem freiheitlichen Rechtsstaat. Wir würden nicht wollen, dass ein Polizist, der den Verdacht hat, dass ich ein neuer Hitler bin, mich am Kragen packen und irgendein Richter mich dann vorsichtshalber für zehn Jahre ins Gefängnis stecken darf. Das Ziel muss stattdessen Aufklärung über die Vergangenheit sein. Und die versuche ich in meinen Büchern und Artikeln.
Wie kann es denn sein, dass wir die Vergangenheit vergessen? Jeder Schüler wird doch von der fünften Klasse an fast jährlich mit dem Thema Nationalsozialismus konfrontiert, an jeder Ecke gibt es Mahnmale, Gedenktafeln und Stolpersteine…
Der Mensch will sich nicht an Unangenehmes erinnern. Das gehört zu seiner psychologischen Konstitution. Erinnerung ist schmerzhaft, sie kann lähmen. Deshalb rufen seit 1945 auch immer wieder biedere Leute nach einem „Schlussstrich“. Sie sagen, man dürfe nicht „immer nur zurückschauen“, sondern müsse „vorwärtsblicken“. Aber wenn man die Vergangenheit vergisst, weiß man nicht, wie aus unscheinbaren Anfängen etwas Großes und Böses entstehen kann. Als Adolf Hitler 1919 im Sterneckerbräu in München nahe dem Isartor auftrat, war er ein lächerlicher Popanz. Eine Witzfigur. Wenn ich meinen Studenten Filme von seinen Reden als Reichskanzler vorgeführt habe, mussten die lachen. Aus etwas so Groteskem und Unansehnlichem kann sich das Böse entwickeln.
Warum wollen wir uns nicht erinnern?
Weil das Thema mit Scham, Schande und Schuld besetzt ist. Ich hatte neulich Besuch von einem Abgeordneten der AfD, und auch der sprach die ganze Zeit davon, dass man ja „nicht für immer schuldig sein könne“. Ich habe dann versucht ihm zu erklären, dass das für die meisten Menschen heutzutage überhaupt kein Thema mehr ist. Da hat der Herr von der AfD nur ganz ungläubig geschaut. Er wollte gerne an seinem Schuldkonstrukt festhalten. Dabei hat auch schon nach 1945 kein Mensch eine Kollektivschuld Deutschlands behauptet. Die angebliche Kollektivschuld war nur vielen Deutschen willkommen um sich gegen das Erinnern wehren zu können.
"Das Missionarische war lange Zeit das Problem bei der Vermittlung von Geschichte"
Haben Sie den AfD-Abgeordneten getroffen, um ihn über die Vergangenheit aufzuklären?
Ich bin 75 Jahre alt. Da wird einem im Laufe des Lebens abgeschminkt, dass man bei den Menschen irgendetwas erzwingen kann. Man kann mit einem ideologisch festgelegten Menschen nicht über seine Gedankenwelt debattieren. Es gelingt nicht, einen fanatischen Rechtsradikalen von Liberalität, Toleranz und Demokratie zu überzeugen. Ich habe da auch überhaupt kein missionarisches Bedürfnis. Aber dieser Mann kam zu mir und wollte über Antisemitismus aufgeklärt werden. Und das sehe ich tatsächlich als meine Pflicht an. Das Missionarische war lange Zeit das Problem bei der Vermittlung von Geschichte. In meiner Generation hat man das Thema Nationalsozialismus zunächst komplett gemieden und danach kam die Überwältigung. Da hat man auf einmal geglaubt, den jungen Menschen mit schwarzer Pädagogik und Moral kommen zu müssen.
Was ist so schlecht daran, an die Moral der Menschen zu appellieren?
Weil das häufig einen Abwehrreflex auslöst. Und dann ist man so beschäftigt, etwas abzuwehren, dass man sich gar nicht inhaltlich damit auseinandersetzt. Meine Erfahrung ist, dass die jungen Leute die Moral von ganz alleine haben. Deshalb appelliere ich bei Vorträgen an Schulen stattdessen an ihre Neugier. Ich sage ihnen, dass sie ein Recht darauf haben, diese Dinge aus der Vergangenheit zu wissen. Ich erzähle dann zum Beispiel die Geschichte von meinem Freund Richard, der im KZ Treblinka war. Jahrzehnte später gingen wir an einem glühend heißen Junitag an einem Brandenburger See spazieren. Plötzlich bekam er Schüttelfrost, Gänsehaut und klapperte mit den Zähnen. Ich fragte ihn, was los sei. Und er sagte: „Das habe ich immer, wenn ich an einem stehenden Gewässer vorbeikomme.“ Der Hintergrund war, dass er sich nach der Flucht mit einem Strohhalm in der Nase sechs Stunden in einem See vor der SS versteckt hatte.
Aber hat es nicht auch mit Selbstschutz zu tun, dass wir das nicht alles hören können?
Vergangene Woche hatte ich hier eine junge Frau vom Fernsehen da, der habe ich vom Massaker in Babyn Jar erzählt. Sie hat angefangen zu weinen und mich gefragt, wie man das denn aushalten kann. Ich habe geantwortet: „Die Erzählungen muss man aushalten. Das ist nicht so schlimm, wie die Realität war.“ Man muss das mit freundlicher Miene und ohne moralisierende Hintergedanken vermitteln, wenn man Aussicht auf Erfolg haben will. Der Mensch neigt zur Verharmlosung. „Das wird schon nicht so schlimm werden“ – so haben die Menschen auch argumentiert, als Hitler Reichskanzler wurde. „Jetzt muss er ja zu Verstand kommen, kann nicht mehr so reden.“ So denken sicher auch viele Amerikaner über Donald Trump, sollte er, Gott bewahre, gewählt werden.
Denken Sie denn, die AfD ist harmlos?
Ich bin bezüglich der AfD sehr beunruhigt. Viele ziehen jetzt ja den Vergleich zur NPD, die 1964 einen vorübergehenden Siegeszug in die Landtage antrat. Tatsächlich war die NPD dann nach einer Wahlperiode abgewirtschaftet, spätestens nach zweien. Aber ob dieser Mechanismus auch heute noch funktioniert, das ist die Frage, die derzeit die Politologen bewegt. Mich beunruhigt auch, dass das Chaos in der AfD die Wähler nicht stört.
"Frau Petry ist eine neue Mischung aus Domina und Unschuld vom Lande. Da kann ich als Historiker schwer mit den Parallelen kommen"
Manche hoffen ja auch, dass die AfD sich gerade deshalb von selbst erledigt – weil sie keine starke Führungsfigur hat.
Ich halte Frau Petry für gefährlich. Die hat eigentlich überhaupt kein Charisma, sondern schneidet einfach nur Grimassen. Aber ihre Attitüde macht sie sehr wirkungsvoll. Und bringt so eine neue Komponente ins Spiel. Eine höchst ansehnliche Gestalt, die knallhart machtbewusst erstklassige Intrigen schmiedet. Eine Mischung aus Domina und Unschuld vom Lande. Da kann ich als Historiker schwer mit den Parallelen kommen und sagen: „Das wird dort und dort hinführen.“ Mein Mittel der Wahl ist dann schon eher die Analyse des Parteiprogramms der AfD. Da kommt mir vieles vor, als sei es aus dem NPD-Programm der 60er Jahre wörtlich abgeschrieben.
Beim Hass auf das Fremde haben Sie schon häufiger versucht, historische Parallelen aufzuzeigen. Für Ihren Vergleich, dass die derzeitige Verfolgung der Muslime stark denen der Juden ähnelt, wurden Sie heftig kritisiert…
Ich wurde dafür nicht kritisiert, ich wurde geschmäht und mit Kampagnen überzogen.
Aber würden Sie weiter an dem Vergleich festhalten?
Absolut. Die Ausgrenzung erfolgt mit ähnlichen Argumenten. 1879 sagte man noch: „Der Jude überfremdet hier alles, der will hier nur die Macht ergreifen, er ist aufgrund seiner Konstitution böse und nicht assimilationsfähig.“ Heute kann man da das Wort „Jude“ mit „Muslim“ austauschen. Früher sagten die Leute auch: „Im Talmud steht, dass der Jude jedes Verbrechen gegen Andersgläubige verüben darf.“ Heute sagen die Leute mit Schaum vorm Mund: „Im Koran steht geschrieben, dass man die Ungläubigen töten müsse.“ Das ist dieselbe Methode, eins zu eins. Aber das ist sehr schwer zu vermitteln.
Warum?
Zum einen geht es dabei um Opferkonkurrenz. Für Mitglieder der jüdischen Gemeinde ist es schwer, und dafür habe ich Verständnis, wenn sie das Gefühl haben, mit Feinden Israels verglichen oder gleichgesetzt zu werden. Dabei kommt es mir gar nicht in den Sinn, Juden und Muslime gleichzusetzen. Vielmehr geht es mir um die Muster der Verfolgung. Die heftigen Reaktionen der Juden hängen aber auch mit ihrer tiefen Traumatisierung zusammen. Der Wunsch, von der Mehrheit des Tätervolkes bedingungslose Zuneigung zu erfahren, sitzt tief. Und natürlich ist dieser Wunsch berechtigt, denn was damals geschehen ist, ist nicht gut zu machen und wird eine Schwierigkeit bleiben. Aber damit kann nicht rationales Denken aus der Welt geschafft werden.
Ich habe oft das Gefühl, diese ganze Debatte erreicht viele Menschen nicht. Sondern nur die, die eh gerne ins Museum gehen und politisch aktiv sind. Wie könnten wir das ändern?
Ich habe immer dafür plädiert, die Geschichte aus den Gedenkstätten herauszuholen. Historisches Lernen nicht nur auf den 9. November und den 27. Januar zu beschränken. Sondern stattdessen den öffentlichen Raum zu nutzen. Was ist zum Beispiel mit Bushaltestellen? Da stehen die Menschen täglich zehn Minuten herum. Da kann man ihnen doch etwas zum Lesen geben. Auch Tafeln an Gebäuden und Stadtmarkierungen finde ich gut. Man muss den Leuten im Alltag klarmachen, was geschehen ist. Vielleicht funktioniert das auch als Trailer, dass die Leute dann irgendwann doch mal ins Museum gehen.
"Man dachte lange, man lässt den Zeitzeugen kommen, weint gemeinsam in die Schüssel und dann ist es vorbei. Aber das berühmte „Was lernen wir daraus“ gehört auch dazu"
Persönlicher Kontakt zu Betroffenen, in diesem Fall zu ehemaligen KZ-Häftlingen, gilt ja als Wundermittel um Geschichte zu begreifen. Könnten wir dieses Prinzip nicht auch auf die Neuzeit übertragen? Ich denke schon. Wenn man einen 20-jährigen Syrer in den Unterricht einlädt und ihn von seiner Flucht erzählen lässt, ist das wirkungsvoll und nimmt die Luft aus dem Feindbild. Man darf es dabei aber nicht belassen, sondern muss die Leute auffangen. Man dachte lange, man lässt den Zeitzeugen kommen, weint gemeinsam in die Schüssel und dann ist es vorbei. Aber man muss die Erzählungen vor- und nachbereiten und so die Emotionen in Rationalität umwandeln. Das berühmte „Was lernen wir daraus“ gehört dazu.
Empfinden Sie die Weltlage denn gerade als bedrohlich? Oder denken Sie, im Abgleich mit der Vergangenheit stets: „So schlimm ist es alles gar nicht“?
Ich finde es aktuell äußerst bedrohlich. Ich fürchte um die Träume und Hoffnungen meiner Jugend. Als ich Schüler und später Student war, war völlig klar: Die Zukunft führt nach Europa. Das „deutsche Vaterland“ hat vielleicht meinen Vater interessiert, aber mich doch nicht mehr. Da fühlte man sich in der größeren Einheit wohl und stückweise ihrer Verwirklichung nahe. Dass so viele jetzt wieder diesem dumpfen, wutbürgerlichen Nationalismus verfallen und das für Fortschritt halten – das macht auch dem 75-jährigen Historiker Angst.
Deprimiert Sie das?
Ich habe keine Zeit zur Depression! Ich muss Artikel schreiben gegen den Trend, Vorträge halten um die Hoffnung nicht erlöschen zu lassen. Ich neige aber auch nicht zu Depressionen. Das wäre der Offenbarungseid jeden Aufklärungsbemühens.