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Warum hassen, wenn auch reden geht?

Foto: Daniel Shaked

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Wer zum ehemaligen Konzentrationslager Sachsenhausen will, muss der „Straße der Einheit“ folgen. Sie beginnt etwas abseits des Zentrums von Oranienburg,  neben dem Nahkauf, und mündet an der Stelle, an der ein Schild an den Todesmarsch von 1945 erinnert,  in die „Straße der Nationen“. 6000 Menschen, so sagt das Schild, starben auf diesem Marsch. Am Ende der Straße sieht man große graue Platten – der Eingang zur Gedenkstätte.

Für die MJC sind die „Straße der Einheit“ und die „Straße der Nationen“ programmatisch. MJC steht für „Muslim Jewish Conference“, die Teilnehmer sind junge Muslime und Juden aus potenziell allen Ländern der Erde. Aber auch einige Christen und Atheisten sind dabei – niemand soll ausgegrenzt werden. Vor der Gedenkstätte kann man die etwa 100 Teilnehmer zwischen anderen Touristen direkt erkennen. Dort stehen nämlich junge Männer mit Kippa neben Frauen mit Kopftüchern, und Frauen mit langen blonden Haaren und Minirock neben Männern mit Takke, der muslimischen Gebetsmütze.  Man umarmt sich viel, raucht miteinander, man schießt viele Selfies. Gutgelaunte junge Menschen, ein bisschen ist die Stimmung wie auf Klassenfahrt. Vom Zusehen würde niemand auf die Idee kommen, dass hier gerade theoretisch sämtliche Konflikte der Welt in einem Mikrokosmos abhängen.

Dabei ist die Idee der MJC genau das: Menschen miteinander in Dialog bringen, die sonst nie etwas miteinander zu tun hätten, ja, die sich vielleicht sogar hassen würden. Jedes Jahr treffen sich die Teilnehmer in wechselnden europäischen Städten, aus Sicherheitsgründen darf der genaue Ort nicht öffentlich bekannt werden. Wer mit will, kann sich mit einem Motivationsschreiben bewerben. Nach Angaben der MJC gibt es mittlerweile doppelt so viele Bewerber wie Plätze, die Teilnehmer kommen dieses Jahr aus 40 verschiedenen Nationen. Dem Südsudan, Israel, den USA, Frankreich, Pakistan, Österreich und Südafrika, um nur einige Länder zu nennen. Die gesamten Kosten für Anreise und Unterbringung trägt der österreichische Verein über Stiftungs- und Spendengelder.

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Die Teilnehmer des MJC kommen aus vielen verschiedenen Ländern.

Foto: Daniel Shaked

Eine Woche diskutieren die Teilnehmer über Religion, Politik und Kultur. Aber auch über noch heiklere Themen wie Gleichberechtigung, Homosexualität oder den Israel-Palästina-Konflikt. „Anfangs haben wir um diese Themen immer einen Bogen gemacht, aus Angst vor den Reaktionen. Heute können wir sie uns gar nicht mehr wegdenken. Vermutlich, weil diese Konferenz einer der sichersten Orte überhaupt ist, um die eigene Meinung zu äußern“, erzählt Maryam aus Pakistan. Die 27-jährige Muslima ist von Anfang an, also seit sieben Jahren, bei der MJC dabei und inzwischen Teil des Organisationsteams um Gründer Ilja Sichrovsky, 33.

Der wiederum ist gerade schwer beschäftigt, ständig will jemand etwas von dem jungen Mann, der seine blaue Kippa farblich abgestimmt zum Sakko trägt. „When does shabbat start tomorrow?“, „Wann fährt später der Bus?“, „Do you have cigarettes?“. Ilja ist CEO der MJC und sagt von sich selbst, dass er bis zu seinem 27. Lebensjahr eigentlich keinen Muslim gekannt habe, so abgeschottet war sein Leben an der Uni und in der jüdischen Gemeinde Wiens.

„Man könnte auch sagen: Ich war von all der Betroffenheit, die mir von Kleinauf vermittelt wurde, abgestumpft. Und mein Bild von Muslimen war versaut“, beginnt er seine Geschichte. Man merkt direkt: Da steht jemand, der Gespräche mit Medien gewohnt ist. Der sich seine Sätze sehr genau auf Zitierfähigkeit zurecht legt. Dann unterbricht ihn jemand, die Führung gehe jetzt los, er solle sich einer Gruppe anschließen. „Wir reden später, ja?“, sagt Ilja und hakt sich bei Maryam unter.

Eine junge Frau mit kurzen, wasserstoffblonden Haaren wird diese Gruppe auf Englisch durch das ehemalige KZ führen. Die interkulturelle Gruppe ist auch für sie etwas Besonderes: „Bei uns kommen selten Muslime vorbei. Wenn überhaupt, dann vereinzelt in Schulklassen. Und natürlich in letzter Zeit vermehrt junge Flüchtlinge.“ Die würden hier nämlich, selbst wenn sie in ihrer Heimat noch nie oder nur verfälscht vom Holocaust gehört hätten, schnell merken, dass es in Deutschland historisch einiges aufzuarbeiten gibt.

„Das war das erste Mal, dass viele von uns seit Jahren wieder aufrichtig geweint haben“

Zur Einführung zeigt die Führerin ein Modell von Sachsenhausen. „Weiß jemand von euch, weshalb das Lager als Dreieck angelegt wurde?“, fragt sie. Ein junger Mann aus Marokko meldet sich direkt zu Wort: „Damit die Wachen vom Turm aus alles im Blick hatten, die Gefangenen allerdings nicht wussten, ob sie beobachtet werden“, sagt er. Die Führerin nickt. Viele hier sind nicht zum ersten Mal beim MJC dabei. In den vergangenen Jahren fand der Kongress in Wien, Kiew, Sarajevo und Bratislava statt – Besuch einer angrenzenden Gedenkstätte inklusive. Beim Besuch von Babyn Jar, der Schlucht nahe Kiew, in der 1941 mindestens 33.000 Juden erschossen wurden, entstand spontan die Idee eines gemeinsamen Gebets nach jüdischer und muslimischer Tradition. „Das war das erste Mal, dass viele von uns seit Jahren wieder aufrichtig geweint haben“, erinnert sich MJC-Gründer Ilja. Das „Sharing the pain“-Konzept, also das Teilen des Schmerzes über die Verfolgung und Diskriminierung, wurde so Teil der MJC.

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Der MJC will Menschen zusammenbringen, wo sonst vielleicht Streit wäre.

Foto: Daniel Shaked

Auf dem Weg zum ehemaligen Lager bleibt die Gruppe kurz vor einigen kastenförmigen Gebäuden stehen. Hier lebten früher die SS-Männer mit ihren Familien. Heute wird hier die Polizei von Brandenburg ausgebildet. Kopfschütteln in der Gruppe. „Wie kann man einen Ort, der so stark für Zwang und Gewalt steht, heute für so etwas nutzen?“, fragt ein junger Mann aus Pakistan empört. Eine brünette Amerikanerin mit Hornbrille sagt, das sei doch nur pragmatisch – wenn man die Gebäude abreißen würde, bliebe ja nichts mehr zum Gedenken übrig. In die Diskussion vertieft gehen die beiden weiter zum nächsten Stopp – dem bekannten schmiedeeisernen Eingangsportal von Sachsenhausen. „Arbeit macht frei“, steht darauf, das zynische Motto der Nazis. Sachsenhausen war primär ein Arbeitslager, allerdings gab es auch hier Massenerschießungen. Manche machen Fotos vor dem Tor. Es wirkt irgendwie deplatziert. Andererseits: Sollte jeder nicht selber entscheiden, wie er die Vergangenheit aufarbeitet?

 

Gefühlt ändert sich mit dem Gang durch die grausame Pforte direkt das Wetter. Obwohl eigentlich Hochsommer sein sollte, pfeift ein kalter Wind über die große Freifläche von Sachsenhausen. Früher standen hier die Baracken für Zehntausende Gefangenen. Nach dem Krieg wurden sie abgerissen. Den Wachturm gibt es aber noch. Und den Erschießungsgraben, in den die SS die Leichen hat fallen lassen. Direkt daneben steht ein Mahnmal. Direkt davor fliegt einem Amerikaner die Kippa vom Kopf. Als er sie vom staubigen Boden aufhebt, ruft ein junger Mann mit bunter muslimischer Gebetsmütze ihm zu: „Mein Vater hat in seinem Shop hunderte, falls du eine neue brauchst.“ Beide müssen lachen. Später legen manche aus der Gruppe kleine Steine auf das Mahnmal. Eine jüdische Tradition zum Gedenken an Verstorbene, die auch interkulturell funktioniert.

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Beten, dass die Lehren aus der Vergangenheit Bestand haben.

Foto: Daniel Shaked

Zum Abschluss der Führung treffen sich dann alle noch einmal zum gemeinsamen Gebet auf der Freifläche. Nach der Befreiung des KZs 1945 fanden sowjetische und polnische Truppen hier noch 3000 Überlebende. Zehntausende waren zuvor durch Arbeit, Krankheit, Hunger, oder eben durch ein Erschießungskommando gestorben.

 

Die Gruppe stellt sich im Halbkreis auf. Zuerst betet ein junger Rabbi auf Hebräisch, im Anschluss ein junger Sufi und ein Imam. Das Wort „Amen“ kehrt immer wieder, egal in welcher Sprache gebetet wird. Danach gibt es Umarmungen, viele haben Tränen in den Augen. „Durch diese Besuche erinnern wir uns an unsere Pflicht, so etwas zukünftig gemeinsam zu verhindern“, sagt Maryam. Und, dass sich die Themen im täglichen Miteinander auf der MJC in den vergangenen Jahren stark verändert hätten. „Jetzt geht es auch viel um aktuelle Politik. Um den zunehmenden Rechtspopulismus, Flüchtlinge, den neu aufkommenden Islamhass.“

 

Sie hofft, dass man mit Projekten wie der MJC verhindern könne, dass aus Vorurteilen weiter Hass geschürt wird. Dass die Teilnehmer zu Hause erzählen, wie das war, in Deutschland zusammen mit Juden oder eben Muslimen zu beten. Dass Freundschaften entstehen wie bei ihr. „Nach unserer ersten MJC Treffen kam ich zurück nach Karachi und hing von da an ständig vor Skype. Das war dann ziemlich lustig, als meine Eltern über den Bildschirm das erste Mal die Eltern meiner jüdischen Freundin aus Toronto gesehen haben.“ Sie sagt, dass auch ihre Eltern erst Sorge gehabt hätten, was die Leute denken könnten, wenn ihre Tochter sich mit Juden trifft. „Aber mittlerweile unterstützen sie mich sehr.“

 

Kann man mit interkulturellem Dialog wirklich die Welt retten? Ilja grinst, die Frage hat er offenkundig schon sehr häufig gehört.

 

Der Gedenkstättenbesuch ist zu Ende, die meisten machen sich mit dem Bus auf den Weg ins Hotel. Aber Moment, da war ja noch die Sache mit der Gründungsgeschichte der MJC. Also nochmal hingesetzt mit Ilja in der kleinen Cafeteria neben der Gedenkstätte, in der Filterkaffee und Bockwurst verkauft werden:

 

„Also, bis 27 hatte ich fast keinen Kontakt zu Muslimen. Und dann habe ich in kürzester Zeit viele nette Menschen aus Pakistan kennengelernt, die enge Freunde wurden. Und ich dachte: Wieso sollte so etwas, das im Privaten klappt, nicht auch im Großen funktionieren?“ Ilja schüttet sich noch mehr Kaffeesahne in seinen Pappbecher. Mittlerweile ist die MJC sein Vollzeitjob. Er muss Gelder akquirieren, die nächsten Konferenzen koordinieren mit seinem Team, das überall um die Welt verteilt ist. Das alles läuft ziemlich gut. „Wir kooperieren nur mit Geldgebern, die an ihre Unterstützung keine Bedingungen knüpfen – in Deutschland zum Beispiel das Auswärtige Amt“, sagt Ilja selbstbewusst. Und dass die Mitglieder und Alumni der MJC Teil einer Generation seien, die es satt habe, immer vorgeschrieben zu bekommen, wie sie leben soll. Wer Freunde und wer Feinde sind.

 

„Ich hoffe, dass aus der MJC irgendwann eine internationale Jugendbewegung wird. Wir müssen den jungen Menschen zeigen, dass sie mit ihrem Kampf gegen Hass und Intoleranz nicht alleine sind“, sagt Ilja und da schwingt auch sehr viel „Damit so etwas wie hier nebenan in Sachsenhausen nie wieder passiert“ mit.

 

Aber ist das nicht auch eine schöne Utopie? Kann man mit interkulturellem Dialog wirklich die Welt retten? Ilja grinst, die Frage hat er offenkundig schon sehr häufig gehört. „Anfangs haben uns alle gesagt, dass das nicht funktionieren kann. Dass man froh sein könne, wenn die Muslime die Juden nicht hochsprengen würden und so absurde Aussagen. Und jetzt? Andere interkulturelle Vereine gehen ein. Aber wir? Wir sind immer noch da und wachsen beständig. Weil es viele junge Menschen gibt, die ähnlich denken wie wir. Das gibt mir das Gefühl, das nichts unmöglich ist.“

 

Letzte Frage also: Wie hält man das dann als junger Mensch aus? Wenn alle einem ständig sagen, das könnte eh nicht funktionieren? Ilja zögert kurz. Als würde er überlegen, was er jetzt preisgibt.

 

Dann sagt er: „In meiner Pubertät trat mein Vater in die FPÖ ein, wurde später der erste jüdische Generalsekretär unter Jörg Haider. Damals war das schwer auszuhalten, wir bekamen viele Anfeindungen. Rückblickend war es ein Glücksfall.“ Inwiefern? „Weil es mich davon befreit hat, den Erwartungen anderer gerecht werden zu wollen. Nichts war mehr tabu. Und jetzt mache ich genau das, was ich für richtig halte.“ 

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