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WG-Leben als Erwachsene*r
Ich bin 31 Jahre alt, habe einen festen Job, wohne in einer WG und ja, vielen Dank, bei mir ist alles in bester Ordnung. Das muss ich dazu sagen, denn die Kombination dieser Umstände löst bei anderen Menschen regelmäßig Zweifel aus, ob es mir gut geht. Vorsichtige Nachfragen: „Hast du Geldprobleme? Findest du nichts Eigenes auf dem Berliner Wohnungsmarkt...?“ Wenn ich beides verneine, sehe ich einen Anflug von Panik durch die Gesichter flackern. Als hätten die Personen sich gerade vorgestellt, selbst freiwillig mit Nicht-Familienmitgliedern ihre Wohnungen zu teilen. „Absurd!“, sagt ihr Tonfall, wenn sie kapiert haben, dass meine Art zu wohnen ein selbstgewähltes Schicksal ist. Sie fragen weiter: „Aber ist dir das nicht zu dreckig? Zu laut? Zu unpraktisch?“
Die Wahrheit ist: Ich kann mir nichts Praktischeres vorstellen. Ich finde es super, dass ich nicht allein die Übersicht über Telefon- und Stromvertrag, Termine mit Handwerker*innen und die Briefe der Hausverwaltung behalten muss, die uns ohne Rechtsgrundlage die Miete erhöhen will. Aber das ist nicht der Grund, warum ich mit vier Mitbewohner*innen zusammenlebe. Mir macht es einfach mehr Spaß, mit anderen Menschen den Alltag zu teilen, als morgens und abends allein in meinen vier Wänden zu hocken. Doch wenn ich das erkläre, überzeugt es kaum jemanden. Für WG-Skeptiker*innen scheint es das Nonplusultra zu sein, nach Feierabend niemanden mehr sehen zu müssen, außer vielleicht den*die Partner*in und die Fratzen aus der aktuellen Lieblingsserie.
Während die Leute vor fünf Jahren also einfach nur zu Kenntnis genommen haben, dass ich in einer WG wohne, schauen sie mich heute schief an. Dabei leben in Berlin eine Menge Leute auch jenseits der Zwanziger in Wohngemeinschaften. Es gibt Berufstätigen-WGs, um Mitbewohner*innen erweiterte Patchwork-Familien, alte Menschen, die sich Gesellschaft wünschen und deshalb untervermieten. Sieht man sich die Optionen auf entsprechenden Plattformen im Internet an, fühlt man sich wie im siebten WG-Himmel. Aber die meisten Leute klicken sich nicht durch solche Inserate. Stattdessen haben sie die übelsten Vorurteile gegen das Wohnen mit Mitbewohner*innen.
Der WG-Klischee-Mensch hat oft lauten Sex
Offenbar ist der Klischee-Mensch, der mit über 30 in einer WG wohnt, in der Vorstellung meiner Bekannten Langzeitstudent*in und kommt mit einem Nebenjob so gerade eben über die Runden. Er lebt in den Tag hinein, feiert unter der Woche zu Hause Partys, räumt nie was weg, braucht zu lange im Bad, macht das Lieblingsgeschirr seiner Mitbewohner*innen kaputt und hat oft lauten Sex. Die gemeinsame Wohnumgebung ist ihm nichts wert, weswegen er grundsätzlich nicht putzt, dafür aber Kratzer und Flecken an Wänden und Möbeln hinterlässt, ohne sich verantwortlich zu fühlen. Er lehnt es ab, Probleme zu besprechen, stattdessen schwelen Konflikte vor sich hin, bis eine*r der Beteiligten schließlich frustriert auszieht.
Wenn ich dagegen halte, dass meine Mitbewohner*innen durchaus rücksichtsvolle Menschen sind, die ich mir immerhin selbst ausgesucht habe, kurzes Nachdenken: „Okay, dann hast du wohl sehr viel Glück gehabt!“ Das bringt mich in schwachen Momenten fast zur Verzweiflung. Sind nette, rücksichtsvolle Menschen so selten, dass man nicht damit rechnen darf, welche zum Wohnen zu finden? Oder geht es eigentlich um etwas anderes?
Wenn ich lese, dass noch nie so viele Menschen ihr Dasein in Single-Wohnungen gefristet haben, werde ich das Gefühl nicht los, dass in unserer Welt etwas nicht stimmt. Das Wohnen mit anderen ist schließlich in den meisten Fällen deutlich billiger und zumindest in Städten (wo Single-Wohnungen am häufigsten sind) stellt es kein Problem dar, gleichgesinnte Mitbewohner*innen übers Internet zu finden. Trotzdem hält die Menschen irgendetwas davon ab.
Alleine-Wohner*innen entwickeln oft ein ziemliches Eigenbrötlertum
Den Gesprächen mit WG-Skeptiker*innen entnehme ich: Das Wohnen in nur einem Zimmer mit geteilter Küche und geteiltem Bad sehen sie als eine Lebensphase, der man natürlicherweise entwächst. Vielleicht weil ein verbreiteter Selbstentwurf ab einem gewissen Alter ein Leben mit Partner*in oder Familie vorsieht. Dem ist man einen Schritt näher, sobald man seine eigene Wohnung hat. Ist die geeignete Person fürs Leben schon gefunden, zieht man natürlich gleich mit ihr zusammen. (Viele WG-Skeptiker*innen sind paradoxerweise bereit, in einer geteilten Wohnung mit Partner*in sogar ihr Schlafzimmer zu teilen.)
Zugegeben: Früher dachte ich selbst, eine Wohnung allein oder zu zweit sei die einzige Form, erwachsen zu sein. So sehen wir es in Filmen, so erwarten es unsere Eltern. Doch dann fand ich das WG-Wohnen so gut, dass mir Zweifel kamen. Gleichzeitig beobachtete ich bei Alleine-Wohner*innen ein zunehmendes Eigenbrötlertum, das sie als unvermeidlichen Effekt des Älterwerdens beschrieben. Aber muss das sein?
Für mich wäre diese Vereinzelung das Falsche. Und auch andere Menschen scheinen darunter zu leiden: Bei den rund 1,3 Millionen Anrufen, die 2017 bei der Telefonseelsorge eingingen, nannten die Personen als einen der häufigsten Gründe Einsamkeit. Rund zwei Drittel gaben an, allein zu leben.
„Ich kann mich nicht mehr auf andere Menschen einstellen“
Wie argumentieren die Alleine-Wohner*innen, mit denen ich spreche? „Ach weißt du, für mich ist die WG-Zeit irgendwie vorbei. Mit neuen Leuten noch mal von vorn anzufangen, das ist mir einfach zu anstrengend.“ Klar – wer nicht allein ist, muss Kompromisse finden. Vielleicht auch Konflikte aushalten. Je voller der Alltag, umso kräftezehrender das Aushandeln zwischenmenschlicher Beziehungen.
Aber gilt das nicht für alle Gemeinschaften? Warum ist es gerade beim Wohnen so besonders abschreckend? Bin ich wirklich ein seltsames Exemplar der Spezies Mensch, weil ich mich darauf einlasse?
Die Leute sagen mir nicht direkt, dass sie das so sehen. Aber sie antworten mit einem langgezogenen „okaaaaay…“ wenn ich erkläre, dass ich das Wohnen in einer WG immer noch super finde. Oft grenzen sie sich schnell ab: „Also für mich wäre das ja nichts.“
An Tagen, an denen ich mich angriffslustig fühle, verzichte ich auf Erklärungen und mache es lieber noch ein bisschen schlimmer. Dann erwähne ich, dass mein jüngster Mitbewohner erst neun Monate alt ist. Es dauert meistens eine Sekunde, bis der Groschen fällt. Und dann sehen die Reaktionen immer sehr ähnlich aus. „Echt, du wohnst mit einem Baby? Ist dir das nicht zu stressig, zu laut, zu unpraktisch…?“