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„Instagram hat für muslimische Mädchen mehr geleistet als die Schule“

Melisa Erkurt spricht über ihr Buch „Generation Haram“.
Foto: Heribert Corn

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Melisa Erkurt, geboren 1991 in Sarajevo, ist als Flüchtlingskind mit ihren Eltern nach Österreich gezogen, wo sie zur Schule ging. In Wien arbeitete sie zunächst als Lehrerin. Heute ist die Reporterin für den Fernsehsender ORF und hat das Buch „Generation Haram“ geschrieben, das aus dem gleichnamigen Essay von 2016 beim Magazin Biber (Kooperationspartner von jetzt, Anm. d. Red.) hervorgegangen ist. Darin klagt sie das österreichische Bildungssystem an, das muslimische Migrantinnen und Migranten nicht fördert – sondern ihnen sogar schadet.

jetzt: Dein Buch heißt „Generation Haram, weil du in deiner Zeit als Schulprojektleiterin beobachtet hast, wie muslimische Jungs in der Schule die muslimischen Mädchen mit dem Wort „haram“ zurechtweisen, etwa wenn sie ein kurzes Kleid tragen. Haram ist arabisch und heißt „verboten. Was hat das mit den Problemen des Bildungssystems zu tun?

Melisa Erkurt: Die Jungs haben in den meisten Bereichen kein Selbstbewusstsein. Sie sagen also „haram”, weil sie das Gefühl haben, in diesem Bereich noch etwas zu sagen zu haben. Dabei haben sie nicht wirklich Ahnung vom Islam – sonst wüssten sie, dass laut Koran nur Gott und kein Mensch einem vorschreiben kann, was man darf und was man nicht darf. Indem sie „haram“ sagen, fühlen sie sich mächtig  in einer Gesellschaft, die sie abgeschrieben hat. Genauso wie Jugendliche aber negativ beeinflussbar sind, so sind sie auch positiv beeinflussbar. Nur gibt es niemanden, der diese Jugendlichen positiv beeinflussen möchte. In der Schule sagt man oft über die muslimischen Jungs: „Das ist ihre Kultur. Die sind halt so.“

Welche Unterschiede gibt es zwischen muslimischen Jungen und Mädchen?

Die Mädchen sind in den letzten Jahren viel selbstbewusster geworden. Instagram hat für muslimische Mädchen mehr geleistet als die Schule. Da gibt es Influencerinnen und Trends, die die Mädchen inspirieren und voranbringen. Sie wollen sich nichts mehr verbieten lassen. Was ja eine tolle Sache ist. In Österreich kontert man das aber: Klar, man wolle die Mädchen selbstbewusster machen. Aber nein, jetzt gibt Vater Staat mit einem Kopftuchverbotsgesetz vor, dass sie in der Schule kein Kopftuch tragen dürfen. Das ist Politik auf ihrem Rücken.

„Bei den Jungs hat man Angst und möchte nicht, dass sie Macht bekommen“

Wie ist es bei den Jungs?

Da merke ich, dass sie es noch schwerer haben, aufzuholen. Mit muslimischen Mädchen hat man eher Mitleid. Man freut sich, wenn ein paar von ihnen Erfolg haben und etwas schaffen, weil man denkt: „Diese armen unterdrückten Mädchen!“ Aber bei den Jungs hat man Angst, man fürchtet sich vor ihnen und möchte nicht, dass sie Macht bekommen. Diese Jungs sind die größten Verlierer. Dazu noch haben die Jungs kaum Vorbilder – im Bildungsbereich gibt es deutlich weniger Männer als Frauen. Und so gut wie keine migrantischen Männer.

Wohin führt es, wenn man die Kinder nicht so unterstützt, wie es sein müsste?

Sie werden aussortiert. Sie sind zum Scheitern verurteilt, landen öfter in Armut und in schlecht bezahlten Jobs. Man ist nie richtig angekommen, wenn man sieht, dass bestimmte Jobs nicht erreichbar für Migrant*innen und wie mit einem Strandtuch für die Mehrheitsgesellschaft reserviert sind.

Du schreibst in deinem Buch in Bezug auf die muslimischen Kinder: „Nichts darf mehr vorausgesetzt werden. Das klingt nach Resignation.

Für diesen Satz bekomme ich die meiste Kritik. Gerade von Menschen, die an einem Konstrukt von Familie hängen, das es für ökonomisch schwache Migrant*innen-Kinder nicht gibt: Familien, in denen die Mutter in Teilzeit arbeiten kann und sich nebenbei um alles kümmert, während alles andere super ist. Die, bei denen es nicht so ist, bestrafen wir aber dafür, dass ihre Eltern keine Zeit, nicht das Wissen und nicht die Deutschkenntnisse haben. Ich sehe es deshalb pragmatisch: Es bringt den Kindern nichts, wenn wir uns auf einen Zustand und bestimmte Voraussetzungen verlassen. Deshalb schaffen es von Generation zu Generation nur dieselben Leute. Jedes Kind muss so behandelt werden, als müsste es daheim nichts aufholen.

Du schreibst auch darüber, was migrantische Kinder an Fähigkeiten mitbringen, die eigentlich bereichernd sind. Zum Beispiel Sprachen und kulturelle Prägungen. Aber viele Kinder verstecken das. Warum?

Sie werden dafür beschämt. Die Kinder übersetzen für ihre Eltern, sie helfen ihnen durch den Alltag. Ich habe mit zehn Jahren Formulare und Beschwerdebriefe ausgefüllt, die meine Freundinnen erst mit Anfang 20 ausfüllen mussten. Diese Kinder haben unglaubliche Ressourcen. Aber wir beschämen sie. Wenn sie zum Beispiel mal zu spät kommen, weil sie die Mama zum Arzt begleitet haben, kriegen sie Ärger. Oder wenn ein Kind seine Hausaufgaben schlampig abgibt. Aber vielleicht hat es nicht mal einen Schreibtisch daheim? Vielleicht teilt es sich mit drei Geschwistern, die rumschreien, ein Zimmer? Niemand wertschätzt diese Leistungen. Genauso bei den Sprachen: Wenn jemand Französisch oder Englisch kann, ist das etwas Großartiges. Wenn jemand Türkisch oder Bosnisch kann, muss man sich dafür schämen.

„Eine Schulstunde reicht nicht aus, ein Fass aufzumachen. Deshalb muss man auch an dem Konzept der Fächer rütteln“

Viele wichtige Themen wie Antisemitismus und Homophobie werden, wie du schreibst, im Unterricht nicht ausreichend behandelt. Dabei wären sie auch für viele muslimische Kinder wichtig. Woran liegt das?

Der Lehrplan und die Menschen, die unsere Lehrerinnen ausbilden, sind sehr homogen. Unser Lehrerzimmer muss diverser werden, das stimmt. Aber auch jene, die die Bildungspolitik machen, müssen diverser werden. Viele wurden nicht auf diese Themen vorbereitet und gehen Konflikten lieber aus dem Weg. Eine Schulstunde reicht nicht aus, ein Fass aufzumachen. Deshalb muss man auch an dem Konzept der Fächer rütteln.

Mit Alma Zadić gibt es seit Januar eine bosnischstämmige Justizministerin in Österreich. Du hast ein Buch geschrieben, das auf der Sachbuch-Bestsellerliste auf Platz 1 steht. Einige schaffen es also trotzdem, oder?

Die Justizministerin musste viel mehr leisten. Sie hat eine viel heftigere Karriere hingelegt als zum Beispiel der Bundeskanzler. Sie bekommt dafür die meisten Morddrohungen und Beleidigungen. Man macht es sich sehr einfach, wenn man sagt: „Die haben es doch geschafft.“ Auch die stoßen auf eine imaginäre Mauer und unglaublichen Hass.

Bei diesen Erfolgsgeschichten gibt es, wie du schreibst, meist eine bestimmte Person, die hilft. Wie war das bei dir?

Bei mir war es meine Volksschullehrerin. Das besondere war – und das klingt traurig – dass sie mich nicht diskriminiert hat. Für sie war ich nicht das Flüchtlingsmädchen, nicht das muslimische Mädchen. Ich war einfach das Mädchen Melisa. Sie hat mich nicht ausgefragt, wieso mein Vater nicht in die Schule kommt und warum ich in den islamischen Religionsunterricht gehe. Das hätte mich alles komplett überfordert. Sie hat mich stattdessen viel gelobt und viel vorgelesen und mich nie direkt spüren lassen, dass sie mich sehr unterstützt hat. Das war das Gute an ihr. Bei einer Bekannten war das anders. Da hat die Lehrerin Geld gesammelt für sie, weil ihre Familie keines hatte. So konnte sie bei den Ausflügen mitfahren. Aber dann haben die Mitschüler gesagt: „Du kannst nur mitfahren, weil wir Geld gesammelt haben!“ Das ist nicht gut, wenn man dann doch wieder den „White Saviour“ in den Vordergrund stellt.

Was hat es für Folgen, wenn man sich gegen die Vorzeichen durchsetzt und eine „Vorzeigemigrantin“ ist?

Lehrerinnen sagen mir, dass manche ihrer 18-jährige migrantischen Schülerinnen nicht verstehen, was ich schreibe. Sie wollen von mir nicht in die Opferrolle gesteckt werden. Das Gefühl hatte ich auch mit 18. Aber dann habe ich gemerkt: Irgendwann stößt du an die Grenze. Die Leute in Österreich sehen: „Die hat Erfolg, was will sie noch mehr?“ Dabei wissen sie, dass ich als muslimische Frau zum Beispiel nicht Bundeskanzlerin werden kann. Aber für sie ist das okay. Denn ich habe ja in ihren Augen viel erreicht. Für ihre eigenen Kinder würden sie das nicht akzeptieren. Die Mehrheitsgesellschaft weiß, dass Migrant*innen an eine Grenze stoßen. Aber sie akzeptiert es.

Was ist der Preis für die, die es geschafft haben?

Die Schülerinnen, von denen ich anfangs sprach, sind sehr ehrgeizig. Und: Viele stehen vor dem Burnout, weil sie immer mehr als ihre Mitschülerinnen leisten müssen, um ihre Daseinsberechtigung in diesem Land zu erbringen, um die Vorurteile nicht zu bestätigen. Von vielen höre ich auch, dass sie auswandern wollen, zum Beispiel nach Deutschland, weil sie in Österreich an Grenzen stoßen.

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