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Anna Mayr im Interview über Arbeitslosigkeit und ihr Buch „Die Elenden“
Das Gefühl zu haben, auf Kosten anderer Menschen zu leben. Sich Wünsche abgewöhnen zu müssen. Zu denken, man hätte nichts verdient im Leben. All das hat Anna Mayr in ihrer Kindheit und Jugend empfunden – ihre Eltern sind Langzeitarbeitslose, sie wurde mit Hartz IV groß. Heute ist Anna Mayr Journalistin bei der Zeit und hat ein Buch geschrieben. In „Die Elenden“ geht es genau um dieses Thema: Arbeitslosigkeit und Hartz IV und darum, warum eine Gesellschaft Arbeitslose immer brauchen wird.
Uns erzählt die Autorin nun vom Pendeln zwischen dem Hartz-IV-Haushalt der Eltern und ihrem Arbeitsplatz in Berlin-Mitte, wie sie die Scham über ihr Aufwachsen überwinden konnte und worüber sie sich abseits ihrer Arbeit identifiziert.
jetzt: Anna, was hat die Arbeitslosigkeit deiner Eltern mit dir gemacht?
Anna Mayr: Das ist schwierig zu beantworten. Was würde jemand zu der Frage sagen: Was hat es mit dir gemacht, dass dein Vater Ingenieur ist? Ich glaube, dass ich früh ein starkes Empfinden für Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit entwickelt habe. Als ich im Teenageralter verstanden habe, was Arbeitslosigkeit bedeutet, war ich wütend; weil niemandem daran gelegen war, unsere Situation zu verbessern. Ein ganz praktisches Beispiel dafür war, dass ich als Kind in einem Hartz-IV-Haushalt nicht mehr als 100 Euro im Monat verdienen durfte, ohne dass mein Hartz-IV-Satz gekürzt worden wäre. Das ist eine strukturelle Ungerechtigkeit: dass manche junge Menschen nach ihren Eltern beurteilt werden und manche nicht.
„Ich hatte lange gedacht, dass die Eltern meiner Freunde Steuern zahlen müssen, damit ich überleben kann“
Du hast dich lange dafür geschämt, dass deine Eltern arbeitslos sind. Hast du diese Scham jetzt verloren?
Sonst hätte ich wohl kein Buch darüber geschrieben. Der Moment, in dem ich die Scham verloren habe, war in einem Gespräch mit einem Freund, der sich viel mit Gesellschaftstheorie beschäftigt hat. Er sagte zu mir: Es ist doch das Recht eines Menschen in Deutschland, nicht zu verhungern. Niemand muss dankbar für das Geld sein, das er vom Staat zum Überleben bekommt. Ich hatte vorher lange gedacht, dass die Eltern meiner Freunde Steuern zahlen müssen, damit ich überleben kann. Dieses Bild von Arbeitslosen prägt das Fernsehen ja extrem: Da sind die, die auf unsere Kosten leben. Aber genauso wie die Ampel in meiner Straße funktioniert und Schlaglöcher repariert werden, lässt man Familien in diesem Land eben nicht auf der Straße schlafen. Das ist mir in dem Moment, mit 19, erst klar geworden. Abgesehen davon weiß ich inzwischen, wie viele Steuern hinterzogen werden und was mit Steuergeld noch so alles gemacht wird.
Du schreibst, dass du jetzt wegen deiner Kindheit in armen Verhältnissen besonders viel Anerkennung für deine Karriere bekommst. Wie findest du es, als „Aufsteigerin“ gelobt zu werden?
Ich finde dieses Lob ganz niedlich, weil ich weiß, woher es kommt: Es ist der Versuch, die Position von Menschen als Resultat ihrer Arbeit, ihres Kampfes darzustellen. Wer selbst nicht „aufgestiegen“ ist, der lobt die Aufsteigerin, um sich damit zu beweisen, dass auch er seine Position verdient hat – weil man ja wohl nur hart arbeiten muss, um Erfolg zu haben und wer unten bleibt, ist selber schuld. Mir persönlich ist dieses Lob egal. Interessant finde ich aber, dass die Menschen, die mehr als ein Milieu kennen, mich nie loben. Weil sie verstehen, dass „Aufstieg“ oder das Wechseln von Milieus ein Produkt von vielen verschiedenen Umständen ist. Und dass man sich einfach nur wünscht, nicht als hervorhebenswerter Sonderfall gesehen zu werden.
Früher hast du von Hartz-IV gelebt, jetzt verdienst du selbst Geld und lebst in Berlin-Mitte. Die meisten Menschen lernen in ihrem Leben nur eine soziale Schicht kennen. Kann man sich in zwei so unterschiedlichen Lebenswelten wohlfühlen? Ist man immer zerrissen zwischen zwei Extremen?
Zunächst einmal: Ich finde das Wort „Schicht“ despektierlich, weil es ein oben und unten annimmt. Zerrissen bin ich auf jeden Fall nicht. Aber das Gefühl, noch etwas anderes zu kennen, eine andere Lebenswelt, kann man sich so vorstellen: Du tauchst. Unter der Wasseroberfläche, immer geradeaus, neben allen anderen her. Nur zwischendurch tauchst du plötzlich auf, holst Luft – dir wird bewusst, dass du gerade tauchst und dass es noch etwas anderes gibt als das Wasser, in dem du schwimmst. Menschen, die ihr Leben immer im gleichen Milieu verbracht haben, tauchen einfach nur und müssen nie Luft holen. Sie kennen nur eine Realität, ein Set von sozialen Codes und Gewohnheiten. Deshalb fallen ihnen die Unterschiede zu anderen Lebensrealitäten nicht andauernd auf. Wenn ich in einer teuren Bar für Getränke bezahle, dann sehe ich manchmal die Rechnung und denke: Fuck, ist das gerade teuer. Was man von dem Geld alles kaufen könnte! Das ist so ein Lufthol-Moment. Und dann schwimme ich aber weiter, bezahle, setze mich ins Taxi nach Hause. Wenn man sich nicht anpasst, zu viel über der Oberfläche schwimmt, sich selbst die ganze Zeit von außen betrachtet, dann wird man unglücklich.
„Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Menschen existieren, die 5000 Euro netto im Monat verdienen“
Wie stehst du zu reichen Menschen?
In meinem Umfeld waren wenig Leute wirklich reich. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Menschen existieren, die 5000 Euro netto im Monat verdienen. Meine Freunde und ich haben auch ein Unverständnis gegenüber reicheren Kindern gehabt – die bekommen ja alles von ihren Eltern in den Arsch geschoben. Heute denke ich mir: Wenn man Geld hat, das Kind etwas will und man es sich objektiv leisten kann, warum würde man es dem Kind dann nicht kaufen? Wir sind alle gefangen in Ideologien und Strukturen, reiche Menschen sind das genau so wie arme. Und auch Reiche haben Angst, ihren Reichtum zu verlieren. Der Unterschied ist, dass jeder für Reichtum Empathie entwickeln kann: Früher habe ich teure Restaurants verachtet, heute finde ich es eigentlich ganz schön, kleine Portionen von großen Tellern zu essen. Für Armut hingegen gibt es keine Empathie.
Findest du, dass Geld in unserer Gesellschaft fair verteilt ist?
Nein. Ich glaube, Erbschaft wird auf lange Sicht nicht mit der Demokratie vereinbar sein. Die Idee der sozialen Marktwirtschaft war ein Leistungswettbewerb, aber in dem Moment, wo sich viel Vermögen an wenigen Stellen akkumuliert, ist die soziale Marktwirtschaft kein Leistungswettbewerb mehr, sondern ein Erb-Wettbewerb. Neulich habe ich einen Text über Vermögensabgaben geschrieben. Ein Leser reagierte mit der Frage, warum ich neidisch auf seine Kinder sei. Ich habe geantwortet, dass ich überhaupt nicht neidisch bin. Er solle sich nur bewusst machen, dass seine Kinder für ihr Erbe nichts geleistet haben. Wenn wir über die Armen sprechen, dann tun wir so, als würden Geld und Leistung zusammenhängen – aber gleichzeitig sehen wir bei den Reichen jeden Tag, dass das eine Lüge ist. Ich würde das Erben abschaffen, und dafür die Möglichkeiten, zu Lebzeiten zu schenken, ausweiten.
„Jeder drückt durch das, was er kauft, aus, was er sein möchte“
Du schreibst, dass wir unsere Identität herbeikonsumieren. Arbeitslose seien von dieser Identitätsbildung ausgeschlossen. Was meinst du damit?
Jeder drückt durch das, was er kauft, aus, was er sein möchte. Wenn man aber kein Geld hat oder nur genau so viel, um das Billigste zu kaufen, wird einem die Freiheit genommen, zu bestimmen, wer man sein möchte. Die günstigen Klamotten, die man sich leisten kann schreien ja: ‚Ich bin Teil der Unterschicht.‘ Wer Sachen von Kik trägt, ist ein Asi, weil Asis Sachen von Kik tragen. Dieses Bild wird ständig reproduziert.
Aber ich kann mich doch auch ohne Geld identifizieren, indem ich zum Beispiel joggen gehe oder auf einem alten Handtuch draußen Yoga mache.
Auch das alte Handtuch ist Symbol einer Second-Hand-Öko-Bewegung, auch Yoga-Kurse sind Konsum. Aber das macht dich nicht zu einem schlechten Menschen. Es ist auch in Ordnung, wenn jemand sich eine Rolex kaufen möchte, um in seinem Milieu akzeptiert zu werden. Jeder Mensch ist in bestimmte Wertesysteme eingespannt und wir versuchen alle nur, möglichst gut klarzukommen. Konsum bestimmt unseren Alltag. Alles wird gekauft. Selbst das alte Handtuch, das eine junge Studentin im Second Hand Shop kauft. Es ist ein Ausdruck ihrer selbst zu sagen: Ich schere mich nicht um Luxus. Aber Arbeitslose haben diese Wahl nicht. Bei einer jungen Studentin ist es cool, wenn sie in einen Second Hand Shop geht und auf Marken scheißt. Bei einem 50-jährigen Arbeitslosen, der in einen Second Hand Shop geht und auf Marken scheißt, denkt man: Ja, weil du dir nichts anderes leisten kannst.
Du schreibst, wir sollten uns über andere Dinge identifizieren als unseren Job. Wo liegt für dich da das Problem?
Wenn du dich nur über deinen Job identifizierst, machst du dein Selbst von jemandem abhängig. Von einer Firma, einem Arbeitgeber oder Investoren, denen du als Mensch vollkommen egal bist. Wir sagen zu Kindern: „Du musst unabhängig werden“ – und meinen in Wirklichkeit damit, dass sie abhängig von einem Arbeitgeber werden müssen. Eigentlich ist man nur unabhängig, wenn man mit eigenem Vermögen ohne Investoren ein Unternehmen gründet, und selbst dann ist man abhängig vom allgemeinen Wirtschaftswachstum und von Konsumenten. Wenn sich Leute mit ihrem Job so stark identifizieren, dass sie ohne ihre Arbeit nichts mehr sind, haben sie noch größere Angst, arbeitslos zu werden – weil sie dann sich selbst verlieren würden. Viele nehmen sich sogar das Leben, wenn sie ihren Job verlieren.
Wenn man sich nur über seinen Job identifiziert, sind außerdem Menschen ohne Job einfach nichts. So schließen wir die Leute aus, die nicht arbeiten. Das sind nicht nur Arbeitslose, sondern auch alte Leute, die vereinsamen und alleine sterben, weil sie, sobald sie aus ihrem Job heraus sind, ihre Identität und ihr soziales Umfeld verlieren.
Wie identifizierst du dich denn abseits deines Berufs als Journalistin?
Ich mache tatsächlich gerne Yoga, auch wenn das immer ein bisschen peinlich klingt. In der Corona-Zeit habe ich angefangen, zu malen und zu puzzlen und zu backen. Ich bin großer Fan von Gegenwartsliteratur, vor allem, wenn sie von Frauen geschrieben wird. Ich schreibe und ich mag Katzen. Meine größte Leidenschaft sind aber wahrscheinlich Menschen und ihre Leidenschaften. Hobbies, Obsessionen. Das können Tauben sein oder Modelleisenbahnen oder Briefmarken.
Wir sollten uns anders gegenüber Arbeitslosen ausdrücken, schreibst du. Statt „sozial schwach“ sollte man besser „arm“ sagen. Wieso ist das wichtig?
Worte prägen unsere Welt. „Sozial schwach“ ist ein Begriff, der abgrenzt. Es gibt die Gesellschaft und die „sozial Schwachen“. Was soll sozial schwach überhaupt heißen? Dass man nicht einfach Freunde findet? Es klingt wie eine natürliche Disposition von Menschen, mit der die Gesellschaft nun eben umgehen muss. Man problematisiert die Leute, nicht die Situation. „Arm“ hingegen hat ein Gegenteil, es ist eingebettet in ein Gefüge, in dem manche verlieren und manche gewinnen. Man spricht ja auch gern über „sozial schwache Gegenden“, was auch eine absolute Bullshit-Formulierung ist. Oft geht es da ja um Orte, an denen viele Menschen mit Migrationshintergrund leben. Diese Menschen sind miteinander teils extrem gut vernetzt, sind füreinander da, also sozial viel stärker als die Lehrerkinder in Einfamilienhaussiedlungen es vielleicht jemals sein werden.
Wie verändert sich der Blick auf Arbeitslose, wenn durch die Pandemie mehr Menschen ihren Job verlieren?
Es lernt gerade ein neues Milieu Arbeitslosigkeit kennen: junge Menschen, die im Marketing gearbeitet oder ein Traineeship angefangen haben. Wenn diese Gruppe von Menschen, die oft in bürgerlichen Haushalten aufgewachsen ist, sich plötzlich mit Hartz-IV beschäftigen muss, sehe ich eine Chance darin, dass sich Hartz-IV verbessert. Empathie mit dem Langzeitarbeitslosen zu haben, wird wohl immer noch für die meisten sehr schwer sein. Dieses Gefühl von Abseits und Machtlosigkeit nachzuempfinden, ist emotional sehr anstrengend. Das kann man nicht von jedem erwarten. Aber wenigstens Empathie dafür zu haben, dass es manchen Leuten anders geht als einem selbst. Und dass man nicht auf sie herabblickt, sondern jeden Menschen als Produkt von Umständen und Zufällen begreift.