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Leben in der Vorabendserie

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„Weil drei a weng weng san“, steht auf dem Plakat am Würstchenstand. Heißt: Auf dem Marktplatz in Erlangen werden nicht drei, wie in Nürnberg (und überall sonst), sondern vier Bratwürstchen im „Weggla“ serviert. „Hugenottenbomber“, sagt die Verkäuferin. „Würstchenberg“ könnte man es auch nennen. „Gud’n Abedid“, wünscht sie.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Auf dem Marktplatz hört man das Brutzeln der Bratwürste, das Rauschen des Paulibrunnens und sonst: nichts. Keine Autos, kein Fahrradklingeln, kein Kinderschreien. Wer stehen bleibt, dem tritt niemand in die Fersen. Radfahrer steigen ab, um sich zu umarmen. Ich bin in der Idylle einer Vorabendserie gelandet.

24 Stunden habe ich Zeit, um Erlangen kennenzulernen. In meiner Vorstellung bestand die Stadt bisher aus Uni, Krankenhaus und Siemens. Von all dem sehe ich erst mal nichts. Dafür einen Marktplatz, der halb mit Stühlen und Tischen vollgestellt ist, zwischen denen hektisch Kellnerinnen und Kellner herumspringen. Alle anderen Erlanger gehen dafür umso langsamer. Wenn sie überhaupt gehen. Viel lieber sitzen sie. Vor der Unibibliothek, auf dem Denkmal des Uni-Gründers Markgraf Friedrich von Brandenburg-Bayreuth, vor dem Kino, vor den Arcaden, am Boden. Lesen, rauchen, beißen in ihre Bratwurstsemmeln. Auch im Oktober stehen Liegestühle vor den Läden. Es ist, als hätte die ganze Stadt niedrigen Blutdruck.

Vor dem Free Willy sitzen drei Studenten und trinken in der Sonne Milchkaffee. Das Geschäft ist eine Mischung aus Café, Siebdruckwerkstatt, Näh-Salon und Umsonstladen, in dem Menschen Dinge, die sie nicht mehr brauchen, abgeben, damit andere sie sich holen können . ADAC-Reiseführer über Süddeutschland zum Beispiel oder einen Schulranzen mit Pinguinen und Flecken. Erlangen sei schon sehr ruhig, sagt Sarah, 23, eine der Studentinnen. „Aber ich mag das. Und Nürnberg ist ja nicht so weit weg. Außerdem gibt es viele alternative Angebote.“

Für eine Stadt mit nur knapp mehr als 100 000 Einwohnern ist in Erlangen wirklich ziemlich viel alternativ. Im selbstverwalteten Jugendhaus gibt es montags veganes Essen auf Spendenbasis. Gegenüber von Kaufland ist ein bio-fair-veganes Café eingezogen, mit Workshops zum „Multitalent Tofu“ und „Foodsharing-Dinner“. Im Kulturzentrum gibt es Lesungen und eine offene Fahrradwerkstatt, in der ganzen Stadt unabhängige Kinos, kleine Theaterbühnen, Wohnzimmerkonzerte. Sogar die gediegenen Cafés, in denen Kaffee in Silberkännchen und Schwarzwald-Eisbecher serviert werden, haben Veggie-Karten.

„Die Stadt pulsiert im Rhythmus der Kurswechsel“, sagt Lucas. „Während des Semesters sind immer um viertel vor zehn, viertel vor zwölf und so weiter die Bürgersteige voll.“

Nächstes Ziel: Schlossgarten. Das namensgebende Schloss kann man leicht übersehen. Ein Mann, der mit einem Tablett voller Salami-Schnittchen von einem Empfang kommt, zeigt es mir nachsichtig. „Es sieht dem Kollegienhaus der Universität auch sehr ähnlich“, sagt er und betont, dass die repräsentativsten Gebäude der Stadt „in Unihand“ seien. Mit einer Armbewegung deutet er auf den Rest der Unikulisse, bestehend aus Orangerie, botanischem Garten und Blumenmeer. Ein Viertel der Erlanger sind Studenten. Im Schlossgarten hört man oft die Worte „Master“ oder „Immatrikulationsbescheinigung“, alle tragen Zeitungen unter die Achseln geklemmt. Auf der Wiese sitzt eine Gruppe und diskutiert über Foucault. Ich verstehe, warum die Erlanger gerne in ihrer Stadt rumsitzen, und geselle mich dazu.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

 

„Die Stadt pulsiert im Rhythmus der Kurswechsel“, sagt der Autor und Poetry-Slammer Lucas Fassnacht, 27, den ich am Abend im Café Brazil treffe. „Während des Semesters kann man richtige Stoßzeiten beobachten. Immer um viertel vor zehn, viertel vor zwölf und so weiter sind die Bürgersteige voll.“

Das Brazil liegt im Zollhaus. „Unser Kreuzberg“, sagt Lucas und schiebt hinterher: „Wenn Erlangen groß genug für ein Szeneviertel wäre.“ Gentrifizierung gibt es hier aber auch. Erlangen sei eine Studentenstadt, „aber die Mieten sind eigentlich für Simensianer“, sagt Lucas. 350 Euro im Monat für ein 14-Quadratmeter-Zimmer sind längst normal. Und ja, so nennen hier wirklich alle die Mitarbeiter von Siemens.

Freunde von Lucas winken durch das Café-Fenster. „Man kann nicht durch die Stadt laufen, ohne mindestens drei Leute zu treffen, die man kennt“, sagt er. Sie wollen zur WG-Party in Lucas’ Wohnung über dem Café. Wir folgen ihnen.

Vor der Tür riecht es nach Paprika und verbranntem Käse. In Lucas’ Küche bestreichen Menschen Baguettes aus Plastikverpackungen mit Frischkäse und belegen sie mit Paprika und Schinken. Einer von ihnen ist Götz Greiner, 28, der sich 2014 als Unipräsident beworben hat. Götz hat nicht gewonnen, verteilt aber immer noch Sticker, auf denen steht: „Götz Hermann Teamarbeit Greiner – Als ob es eine Wahl gäbe“. Mit der Aktion wollte er zeigen, dass in Erlangen doch nicht die Studenten bestimmen, sondern Entscheider von Unternehmen wie Siemens oder der Bundeswehr.

Lucas zeichnet mir auf einer Stadtkarte auf, wo ich nach Pizzabrötchen und WG-Bier noch hingehen kann. „Das Nachtleben in Erlangen findet vor allem in WG-Küchen und Kneipen statt“, sagt er. Die „Dorfdisse“ Zirkel zeichnet er trotzdem ein, außerdem die Studentenkneipe Kanapee, die Elektro-Kneipe Gummi Wörner, den alternativen Club Transfer und das „Nachtrestaurant“ Schwarzer Ritter: „Zum Abstürzen und Currywurst um fünf Uhr früh.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

 

Fränkische Weinkultur hin oder her, in der Bierstadt Erlangen stehen auf den Getränkekarten oft nur ein Rot- und ein Weißwein. Beim Bier gebe es drei Phasen für Erlanger Studenten, hatte Lucas erklärt: „Wenn man in die große Stadt kommt, trinkt man erst mal Kitzmann, die Zweitsemester Zirndorfer, und nach dem dritten Semester kann man die günstigen Ersti-Biere nicht mehr sehen und trinkt Steinbach oder Weller.“ Ich beginne als Neuling mit Ersti-Bier im Kanapee. Die Speisekarte hat Fettflecken, für 16 Euro kriegt man einen Meter Longdrinks: zehn Gläser Cola-Rum. Die Studenten neben mir am Tresen halten mir ein Glas unter die Nase. Ich trinke lieber mein Bier aus und ziehe weiter. Ich weiß noch nicht, dass es das letzte an diesem Abend bleiben wird. Denn die Läden auf meinem Zettel haben alle geschlossen, sogar im Nachtrestaurant stehen die Stühle auf den Tischen. Es ist Montag. Und Semesterferien – die Stadt schläft. Dafür habe ich sie für mich allein. Auf dem Marktplatz hört man nur noch das Brunnenplätschern. Sogar der McDonald’s schließt um Mitternacht, mit Discostempel kriegt man dort Rabatt.

Florian Janik ist 35 und damit der jüngste Oberbürgermeister einer bayerischen Großstadt. „Cooler Typ“, sagten alle auf der WG-Party über ihn.

Am nächsten Tag verstehe ich den Busfahrplan nicht auf Anhieb und beschließe wieder zu laufen. Ich begreife, was „Universitätsdorf“ bedeutet. Erlangen ist die zweitkleinste Großstadt Deutschlands. Länger als 30 Minuten gehe ich nie von einem Ort zum anderen. „Es gibt aber Großstadt-Ecken“, sagt Bürgermeister Florian Janik, den ich im Café Cycles treffe. „Besonders um die Philosophische Fakultät herum.“ Janik ist 35 und damit der jüngste Oberbürgermeister einer bayerischen Großstadt.
„Cooler Typ“, sagten alle auf der WG-Party über ihn. Schon allein weil der SPDler 2014 den CSU-Oberbürgermeister, der 18 Jahre im Amt war, in der Stichwahl besiegte.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

 

„Im Cycles habe ich als Schüler und Student gejobbt“, sagt Janik. Er ist in Erlangen aufgewachsen, hat in Nürnberg studiert, aber weiter hier gewohnt. „Die Stadt nimmt jedes Jahr 10 000 neue Menschen auf und verliert 10 000, weil nach dem Studium nicht alle bleiben. Erlangen ist immer in Bewegung, und trotzdem fühlt man sich geborgen.“ Nach unserem Gespräch schickt mich Florian Janik ins Rathaus. „Nirgends hat man eine Aussicht wie im 14. Stock.“ Auf dem Weg zum Bahnhof gehe ich dort vorbei. Und sehe Altbauten, ein paar Hochhäuser ergeben so etwas wie eine Skyline, Kräne, Bäume, Wiesen. „Im Norden sind die Geisteswissenschaftler, vor allem wegen der Philosophischen Fakultät, im Süden die Hochhäuser, wegen Siemens“, hatte jemand auf der WG-Party gesagt. Von oben ist der Konzern präsent. Aber irgendwie funktioniert alles nebeneinander. Studentisch neben industriell, alternativ neben gediegen, pittoresk neben 20-stöckig.

„Man weint, wenn man nach Erlangen kommt“, sagte Florian Janik, bevor ihn sein Fahrer vor dem Café Cycles abholte. Erlangen ist keine dieser Städte, von der alle sagen, dass sie da mal hinziehen wollen. „Und ein zweites Mal, wenn man Erlangen wieder verlassen muss.” Und die Leute, das sagt der Oberbürgermeister mehrmals, „sind einfach sehr zufrieden.“ Außer, wenn sie nur drei Würstchen im Weggla haben.  
 
Mehr Infos zu Erlangen gibt es unter dem Label Atlas_Erlangen, den kompletten Studentenatlas findest du hier.

Text: kathrin-hollmer - Illustration: Katharina Bitzl

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