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Praktikum - Segen und Fluch
Diese Geschichte beginnt dort, wo jede Geschichte beginnt, die immer weitergeht, aber nie besser wird: vor einem Schreibtisch. Der Schreibtisch stand im Münchner Speckgürtel, mittelkleine Stadt, mit eigenem KFZ-Kennzeichen. Und dahinter saß ein Mann – mittelalt, rennradfahrerhager, Brille mit dünnem Metallgestell, Wollpullover über dem gestreiften Hemd – über ein paar Papiere gebeugt und blickte nicht auf. Zehn Sekunden lang. 15 Sekunden lang.
Es war der erste Tag des ersten echten Praktikums meines Lebens. Und man hatte mich angewiesen, mich pünktlich bei dem Mann zu melden. Ich war pünktlich. Geklopft hatte ich bereits. Vor 20 Sekunden. Ich räusperte mich also. Genauer: Ich versuchte, irgendein Geräusch hervorzubringen, das zeigen sollte, dass ich da bin – was in solchen Situationen ja beides bedeutet: im Gebäude, beziehungsweise bereits im Büro des Redaktionsleiters zu stehen und zu existieren – aber natürlich auf keinen Fall stören zu wollen. Es ist nicht leicht, das alles in ein kurzes Hüsteln zu packen.
25 Sekunden. Der Mann hob jetzt zwar nicht den Kopf, aber immerhin einen Arm, mit einer Hand dran, und an der wiederum ein gereckter Zeigefinger. Aha, einen Moment also. 30 Sekunden. Er sah, wie ich viel später verstehen würde, gerade Akten durch, die er für eine Konferenz gelesen haben musste, die zehn Minuten später beginnen sollte. Man hätte das, mit Einsicht in seinen Tagesablauf, wissen können. Dann hätte man wahrscheinlich nicht geklopft. Oder rumgeräuspert. Aber was weiß man am ersten Praktikumstag schon von Tagesabläufen? Was weiß man überhaupt?!
35 Sekunden. Der Mann unterstrich noch einen Satz auf seinen Blättern. Dann schaute er auf. Sein Blick sagte, mit ein paar vernichtenden Sekunden Erkenntnisverzögerung und der noch vernichtenderen Müdigkeit, die nur jahrelange, murmeltiertaghafte Wiederholung in ein Gesicht schreiben kann: Ah, vermutlich der neue Prakti. Ich sagte, wer ich bin, und warum ich hier stehe – im Gebäude, in seinem Büro, im Leben. Und er sagte den Satz, der das Praktikumswesen in seiner ganzen demütigenden Grausamkeit auf 24 Wörter verdichtet:
„Äh ja, da sind Sie ja. Herzlich willkommen. Ich weiß gerade nicht, was ich mit Ihnen anfangen soll. Aber irgendwas wird sich bestimmt finden.“ Er meinte das nett.
Steile These, klar, aber: Unter den ganzen Wohlstandszumutungen und First-World-Problems, die unsere ersten 25 Lebensjahre schlechter machen, reicht kaum etwas an Praktika heran. Ich habe lange überlegt, warum die vielen Hospitanzmonate zu den ganzheitlich miesesten meines Lebens gehörten. Warum es wenig gab, das mir mehr Leichtigkeit aus dem Wesen gesaugt und heftiger an meinen Nerven, meinem Selbstbild, meinem Stolz gefräst hat. Dabei steckte ja im ersten Satz des ersten Tages meines ersten Praktikums bereits alles drinnen.
Denn wenn es tatsächlich stimmt, dass wir uns über die Arbeit immer auch unserer eigenen Bedeutung, unserer gesellschaftlichen Stellung, unseres Selbst also vergewissern, dann sind Praktika ja das Gegenteil von Arbeit. Oder nein, die Perversion.
Praktika sind dem Wesen nach schließlich (wenigstens erst mal) keine Arbeit im Sinne von etwas herstellen, erzeugen, hervorbringen – im Sinne von produktiv sein. Es sind davon weit entfernte Vorhöllen der Verortung, der Zuteilung, und ja, des Aussortierens. In ein Praktikum geht man nicht, um Wert zu erschaffen. Man geht dort hin, um herauszufinden, was man wert ist (und mit viel Glück, um ein bisschen was zu lernen).
Natürlich geht es auch um die Frage, wie ein Job tatsächlich aussieht. Ob er so viel Spaß macht, wie man sich das ohne Einblick vorgestellt hat. Aber vor all dem steht der große Bedeutungstest: Bin ich grundsätzlich geeignet für den Beruf, den ich mir so wünsche? Und bei späteren Praktika dann: Kann ich mir für die Stelle empfehlen, die ich für so passend hielte?
Praktika sind damit die brutalstmögliche Nähe der Pole Anspruch und Realität, Aspiration und Ziel, Selbstbild und prüfender Blick erfahrenerer Anderer. Und das, während die Pole gleichzeitig maximal weit auseinanderliegen. Man kann wenig, will aber unbedingt zeigen, was man kann.
Das Ziel mag also in Blickdistanz sein – greifen kann man es deshalb noch lange nicht. Hinter jedem neuen Schreibtisch sitzt schließlich potenziell wieder jemand mit fahlem Murmeltiertag-Blick, vor dem man bestehen will. Hinter jeder Tür wartet womöglich eine neue Konferenz, für die Akten gelesen werden müssen. Und zwar dringend. Räuspern oder nicht? Große Frage!
Wir reden bei Praktika also über einen Zustand des permanenten Streckens. Man greift ständig nach Früchten, die tendenziell zu hoch hängen (wenn man das Glück hat, irgendwo zu landen, wo es überhaupt Obst gibt). Und gleichzeitig will man sich – je nach Charakteranlagen – doch auch stets wegducken. Die Arbeiten, die man machen kann, sind schließlich immer beides: herbeigeflehte Möglichkeit zu beweisen, dass man geeignet ist – und gleichzeitig die fatale Chance, das exakte Gegenteil zu offenbaren. Zu erfahren, dass man es nicht oder noch nicht ist. Und das ohne das böse Zutun von irgendwem. Der Mann mit dem Arm und der Hand und dem Finger war ein an sich netter Kerl. Ich bin auch ein netter Kerl. Heute habe ich einen Job, bei dem ich selbst Praktikanten habe. Und obwohl mir mein Leid von damals jedes Mal wieder in Erinnerung gerufen wird, wenn am ersten Tag eines neuen Monats ein neuer Praktikant etwas verloren da steht und begrüßt werden will, ertappe auch ich mich bei ähnlichem Verhalten, wie es damals der Mann mit dem Arm an den Tag legte. Ich ärgere mich dann über mich selbst, aber das bringt nichts. Denn der neue Praktikant ist auf der Prioritätenliste nie ganz oben. Das ist ein ungeschriebenes Gesetz der Arbeitswelt.
Ich hatte Glück. Ich schreibe hier in der Vergangenheitsform. Ich habe den Horror hinter mir. Sechs Mal. Ich wurde in einer Konferenz von einem ziemlich bekannten Kollegen zusammengefaltet, weil ich mich nicht vorgestellt habe. Und in einer anderen von einem sehr bekannten Kollegen ausgelacht, als ich es getan habe. Ich habe mich mit einem Buch auf dem Klo versteckt, weil ich nichts zu tun hatte und nicht wollte, dass das jemand sieht. Ich habe Stunden, Tage und Wochen damit verbracht, Themen für andere zu recherchieren, von denen ich nach einer Stunde, nach einem Tag und dann noch mal nach einer Woche gesagt habe, dass sie nicht funktionieren werden (Ich hatte recht damit. War egal.). Als ich irgendwann den Auftrag bekam, das beste Rezept für Butterbreze mit Schnittlauch zu recherchieren, war ich sehr kurz davor, aufzugeben. Ich habe weitergemacht. Habe Bücher von Vorgesetzten gelesen, um ein Gesprächsthema mit ihnen zu haben (hat nicht funktioniert). Habe wieder mit dem Rauchen angefangen, um mit den Rauchern im Team ins Gespräch zu kommen (hat manchmal funktioniert – aber wenig gebracht). Ich hatte Höhenflüge und Hörstürze.
Wie gesagt: Inzwischen habe ich selbst Praktikanten. Und einen Schreibtisch. Und Blätter, die ich lesen muss. Für Konferenzen. Dringend. Das Grauen ist systemimmanent. Deshalb wird es auch nie besser.