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Jahrestag der Proteste auf dem Tahrir-Platz
Das Interview wurde im Februar 2011 geführt.
Lilo, du bist im September 2010 nach Ägypten gereist. War da für dich absehbar, was da während deiner Bildungsreise auf dich zukommen würde?
Lilo: Ich glaube, das alles hier hätte niemand erwartet. Sogar meine Mitbewohnerin, die ja Ägypterin ist, hat vor den vielen Demonstrationen ihren Landesgenossen nicht zugetraut, dass sie hier eine Revolution entfachen würden.
Aber es muss doch vorher zu bemerken gewesen sein, dass die Menschen in Ägypten unzufrieden sind?
Natürlich waren die Leute auch vorher unzufrieden. Aber es war nicht so sichtbar, wie jetzt. Ende November wurde in Ägypten ja noch gewählt. Da ist keiner mehr hingegangen, man hatte resigniert, weil jeder wusste: „Es passiert eh nur das, was Mubarak will“. Nun beschweren sich die Ägypter auf einmal lautstark über die Arbeitslosigkeit im Land, die schlechte Wirtschaftslage und die vorherrschende soziale Unsicherheit. Wahrscheinlich bin ich noch nicht lange genug im Land, um zu wissen, wo auf einmal der Umbruch war. Dementsprechend war ich umso überraschter, als auf einmal so viele Menschen hier auf dem Al-Tahrir-Platz demonstrierten.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Du studierst in Deutschland Islam- und Religionswissenschaften und sprichst Arabisch. Wie haben die Menschen in deinem Umfeld den Protest begründet?
In meinem Umfeld war die Herrschaft von Mubarak natürlich auch vorher schon ein Thema. Allerdings dachte ich, das läge daran, dass ich mir besonders kritische Freunde gesucht hätte, die mit ihren Ansichten in der Minderheit wären. Hier wurde viel darüber gesprochen, dass die gut ausgebildeten Ägypter oft zum Arbeiten ins Ausland gehen müssen, da sie keinen Job finden. Auch die fehlende Demokratie wurde kritisiert. Bei den Demonstrationen wurde dann deutlich: viele sehen das genauso. Bei den Protesten waren nicht nur junge Leute. Da waren auch Alte, Eltern mit Kindern, Behinderte. Wie sehr die Leute sich wirklich sorgen, ist mir erst am Freitag (Anmerkung: 28. Januar 2011) klar geworden.
Wie hast du die Situation auf den Straßen erlebt?
Als am Dienstag (Anmerkung: am 25. Januar) das erste Mal zu Demonstrationen aufgerufen wurde, war alles sehr friedlich. Die Stimmung glich eher der eines Festivals: Die meisten Leute waren hilfsbereit, ständig wurde gemeinsam der fabrizierte Müll weggeräumt, manche verteilten kostenlos Wasser. Einmal flogen mehrere Kampfjets über uns hinweg, da wurden schnell Taschentücher ausgegeben, die man sich in die Ohren stecken konnte um sich vor dem Lärm zu schützen. An diesen Tagen lag wirklich ein Gefühl von Hoffnung in der Luft. Es waren sogar einige Touristen da, die sich das Treiben anschauten, als würden sie vor den Pyramiden stehen. Das war mir dann aber schon zu viel. Ich will nicht, dass die Leute mich auch für eine Touristin halten, die das Ganze als Spektakel sieht. Allerdings werde ich, wenn ich dann anfange Arabisch zu sprechen, von den Ägyptern schnell als „eine von ihnen“ akzeptiert.
Wann ist diese „Festival-Stimmung“ gekippt?
Erst ab letztem Dienstag (1. Februar 2011) kam die Verwüstung. Vieles davon wurde durch Mubarak angestiftet. Auch wenn die Medien hier teilweise eher einem Comedy-Programm ähneln, wenn Sie mal wieder erzählen, dass nur ein paar von der Moslem-Bruderschaft angestiftete Afghanen und Iraner demonstrieren würden – wir bekommen dann schon mit, dass er bei den Unruhen seine Finger im Spiel hatte. Manche haben erzählt, dass sie gesehen hätten, wie ganze Busladungen mit Menschen herangekarrt wurden, die Tränengas und Waffen bei sich hatten. Bei der bis Freitag vorherrschenden friedlichen Stimmung hätte keiner der Demonstranten Waffen benötigt, das ist alles von der Regierung inszeniert gewesen.
Warst du selbst auf der Straße?
Vieles habe auch ich nur auf den Bildern von Al-Jazeera verfolgt. Natürlich wollte Mubarak die Angst dermaßen schüren, dass viele Menschen sich nicht mehr trauen, ihre Häuser zu verlassen, weil es draußen zu gefährlich wird. Da kann er dann nämlich wieder sagen: „Das Volk braucht mich um die Sicherheit zu gewährleisten.“ Man hörte immer wieder von Plünderungen. Insbesondere Mitglieder jener Schicht, die sich vorher schon keinen Stuhl leisten konnten oder hungern mussten, haben die Gelegenheit genutzt und sich einfach bei anderen bedient. Da wir ja in der Nähe des Al-Tahrir-Platzes wohnen, haben wir auch die Menschenmassen vorbeimarschieren hören und vom Balkon aus gesehen, wie die Wasserwerfer angingen. Als einmal Tränengas versprüht wurde, sind Leute in unsere Seitenstraße geflohen. Zu so einem Zeitpunkt war ich auch mal unten und sofort flog eine Gasbombe. Das Zeug ist echt stark, wenn es einen erwischt, kann ich nun aus eigener Erfahrung sagen.
Kann man denn überhaupt auf die Straße? Man hört immer wieder von einer Ausgangssperre.
Die sogenannte Ausgangssperre kann man getrost vergessen. Daran hält sich hier keiner. Ein häufig genannter ägyptischer Slogan hier bedeutet übersetzt ungefähr „lass doch mal die Ausgangssperre beiseite wir sind doch Ägypter.“ Allerdings bin auch ich gestern wegen der Gewalt nicht mehr rausgegangen. Vorher war ich immer mit Freunden demonstrieren – alleine würde ich das nicht tun. Das hier ist nicht mein Land. Zwar möchte ich meine Freunde, die hier leben, in ihrer Hoffnung unterstützen. Aber als Ausländerin darf es hier nicht meine Aufgabe sein, mehr Menschen zu mobilisieren.
Machen sich deine Eltern Sorgen um dich?
Viele Menschen haben sich Sorgen um mich gemacht, als ich auf einmal nicht mehr online war. Über Handy konnte ich dann Kontakt mit meinen Eltern halten und seit das Internet wieder hergestellt wurde, schreibe ich fleißig Rundmails um zu dokumentieren, was ich hier die letzten Tage erlebt habe.
Wirst du in Ägypten bleiben?
Also offiziell bleibe ich noch bis Mai 2011. Es ist natürlich auch sehr spannend gerade hier und ich fühle mich wohl mit meinen Freunden und der Kultur…
Dann klingelt Lilos Handy und sie entfernt sich vom Computer und von Skype. Als sie nach ein paar Minuten wiederkommt, sagt sie, dass Sie innerhalb einer halben Stunde entscheiden müsse, ob sie aus Ägypten ausgeflogen werden möchte. Lilo beendete das Interview.