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Tiefer Ausschnitt oder zuknöpfen?
Fast berührt die Spitze ihres V-Ausschnitts den Tisch. Ein Schal um den Hals trennt Kopf von Körper und gibt ihrem Dekolleté einen blumigen Rahmen. Zwischen den Brüsten, ein langer Schlitz. Morgens, halb 11, im Seminar „Theorien und Perspektiven der Gender Studies“. Sie spricht und scheint doch nichts zu sagen. Wie in einem Comic fliegen kleine Wölkchen aus ihrem Mund. Kein Wort verstanden. „Kannst Du zuhören?“, stupst mich eine Freundin an. „Ich muss der die ganze Zeit auf den Busen starren. Macht die das extra?“
Nutzt sie ihr Dekolleté als taktisches Manöver, um von ihrem Vortrag abzulenken? Will sie unserer resolut feministischen Dozentin eins reinwürgen? Spielt sie mit ihren Reizen? Oder ist sie sich ihrer Wirkung gar nicht bewusst? Und wir nur gehässige Ziegen, die ihr die Oberweite nicht gönnen und ihr genau das unterstellen, was uns selbst empört: wer angibt, hat’s nötig und wer schön ist, kann nicht schlau sein.
Ob aufgrund eigener Unsicherheiten oder der Begeisterung für einen wohlgeformten Busen - fest steht: Ihr tiefer Ausschnitt polarisiert. Es ist wie mit dem berühmten Autounfall. Man kann nicht nicht hinsehen.
Doch wann ist viel zeigen zu viel zeigen? Muss man sich an Orten wie Uni oder Büro mit der Freizügigkeit zurückhalten? Sich zu einem Vortrag im Seminarraum zuknöpfen, um die uniformierende Bluse danach wieder in die hinterste Ecke des Schranks zu verbannen? Eigentlich sollte man doch tragen, worin man sich am wohlsten fühlt. Dennoch provozieren zu kurze Röcke, zu tiefe Ausschnitte und zu freie Rücken im schlimmsten Fall Vorurteile und fiese Unterstellungen. Doch für die Verunsicherungen der anderen ist man selbst nicht verantwortlich. Warum also Rücksicht nehmen?
In einem Rhetorik-Seminar musste ich mal eine Rede als Eva Herman halten und die Rolle der Frau als Mutter, Hausfrau und Gebärmaschine verkünden. Zur ultrakonservativen Haltung wählte ich einen Bleistiftrock, ein T-Shirt mit großem Ausschnitt und einen breiten pinken Gürtel, der aussieht, wie ein Mix aus japanischem Obi und Corsage. Er machte meinen Körper zur Sanduhr: drückte die Brust nach oben, verstärkte den Schwung der Taille und ließ die Hüfte im Vergleich dazu gebärig breit wirken. Nach der Rede: Lob für den Gürtel. Was für ein Symbol für Hermanns veraltetes Frauenbild und dessen einsperrenden Charakter! Die Inszenierung hatte ins Schwarze getroffen. Ihre Wirkung lässt sich übertragen. Unsere Kleidung zeigt nicht nur, wie wir uns selbst sehen, sondern auch, wo wir uns in der Gesellschaft verorten und wie wir wahrgenommen werden wollen.
Dabei spielt Verführung fast immer eine Rolle – sei es durch nackte Haut oder geistreiche Konversation. Nur wo das Verführen verboten ist oder wie im Büro strenge Bekleidungskonventionen gelten, wirken Brüche besonders heftig. Weil ein Verbot seinen Gegenstand zum Tabu macht. Alles schön schwarz-weiß. Kurzer Rock: böse. Langer Rock: brav. Damit schützen Dresscodes nicht den Betroffenen, sondern den Zuschauer. Denn Verführen scheint noch zu oft mit Versprechen gleichgesetzt zu werden. Dagegen protestierten auch die Slutwalks im vergangenen Sommer. Ihre Botschaft: Ich sehe scharf aus, aber das heißt nicht, dass ich eine Schlampe, geschweige denn frei verfügbar bin.
Wer mit seinem Körper selbstbewusst umgeht, sollte auch Respekt vom Gegenüber erwarten dürfen. Kein Rock und kein Top sollte im Schrank bleiben, um einen anderen Menschen vor seiner eigenen Lust zu schützen.
Doch wer weiß, dass solche Denkmuster nach wie vor gelten, kann diese beim Anziehen berücksichtigen. Denn ob mit oder ohne Blick zum Bauchnabel – die kleinen Wölkchen werden weiterziehen und am Ende zählt hoffentlich nur die Leistung.
Text: mareike-nieberding - Illustration: katharina-bitzl