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Party am Abgrund
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Der Taxifahrer, der mich an den Breitscheidplatz bringt, ist ein Berliner. „Wenn es nicht so schrecklich wäre, würde ich mich über die freien Straßen freuen“, sagt er, als wir den leeren Ku-Damm entlangfahren. Er war am Montag, als ein Lkw in den Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz raste, nicht weit weg vom Tatort. In sein Taxi stiegen zwei Spanier, die gerade dem Anschlag entkommen waren. Als er mich ein paar Hundert Meter vor der Absperrung rauslässt sagt er: „Schönen Abend.“
Es ist 20 Uhr. Es ist kalt. Das Ende eines Berliner Wintertages, an dem der Himmel nur halbherzig von grau auf schwarz wechselt. Vor genau 24 Stunden fuhr der Lastwagen über den Weihnachtsmarkt. Polizeiwagen parken an der Budapester Straße, ein Polizeibus fährt langsam um den Platz. Mitten auf der Fahrbahn stehen Kamerateams. Die, die jetzt noch hier sind, sind es, um zu arbeiten.
Hinter den letzten Sendewagen ragt das Bikini Berlin wie eine leuchtende Insel in die Nacht. Im denkmalgeschützten 50er-Jahre-Bau befinden sich Cafés, eine Shopping-Mall mit Pop-Up-, Flagship- und Concept-Stores sowie die angesagte Monkey Bar, eine Hotelbar mit Panoramablick über die City West und den Tiergarten, die sich selbst als „Urbane Oase inmitten der Stadt“ bezeichnet. Sie hat heute geöffnet, obwohl sie gegenüber des Breitscheidplatzes liegt. Auf der Website des Bikini-Berlin sprechen die Betreiber Opfern und Angehörigen ihr Mitgefühl aus. Vielleicht wollen sie auch an diesem Abend ein Zufluchtsort sein.
"Heute wenig los"
Die Glastür des 25hours Hotels öffnet sich, dahinter empfängt Loungemusik. Ich zahle einen Euro Eintritt, gebe meine Jacke ab und bekomme mein Märkchen zusammen mit dem Hinweis: „Heute wenig los.“ Ein Paar steigt mit mir in den schwach beleuchteten Lift, dessen Türen mit einem leisen Geräusch alles verschlucken: die Lobby, das Restaurant, die Einsatzwagen. Das Paar unterhält sich auf Englisch über die Hotspots der Stadt, die sie heute Abend noch besuchen wollen. Hier, im Lift, beginnt die Monkey Bar, und hier verläuft die unsichtbare Linie zwischen Draußen und Drinnen, Katastrophe und Cocktails.
Die Bar selbst ist ein länglicher Raum mit sechs Meter hohen Fensterfronten. Rechts sticht die goldene Siegessäule aus dem Panorama hervor. Links, nur ein paar Hundert Meter Luftlinie entfernt, steht die Gedächtniskirche, in der am Nachmittag Angela Merkel nach der Schweigeminute weiße Rosen niederlegte. Man kann die Stände des Weihnachtsmarkts von oben sehen. Keine Absperrungen, keine Einsatzkräfte, nur niedrige braune Dächer und Tannengrün. Fast, als wäre nichts passiert.
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Aber wäre nichts passiert, müsste ich vermutlich stehen. Um diese Uhrzeit kriegt man normalerweise kaum einen Platz in der Monkey Bar, heute kann man ich mir den Tisch aussuchen. Der Tresen ist leer. Ich setze mich in die Mitte des Raumes auf niedrige Polster. Nach ein paar Minuten kommt eine Bedienung und legt mir eine Karte auf den Tisch. Es ist ein schöner Ort. Die Einrichtung stimmt, und die Musik, alle sind freundlich und die Cocktails sehen aus, als gehörten sie auf Instagram. Man isst Süßkartoffelchips mit Dipp, das angrenzenden Restaurant ist fast voll besetzt. Ich würde gern wieder herkommen, im Sommer, und draußen auf der Terrasse sitzen, bis die Sonne untergeht. Wenn es wärmer wäre und die Stimmung nicht so bedrückend.
Denn die Stimmung ist bedrückend. Oder vielleicht besser „bedrückt“: Menschen sitzen in Grüppchen zusammen, ein Paar hat die Köpfe zusammengelehnt und schaut aus dem Fenster Richtung Siegessäule. Eine Gruppe hat einen Fensterplatz mit Blick auf die Kirche. Sie steht auf, kurz nachdem ich gekommen bin. Auf dem Tisch bleiben zwei volle Rotweingläser zurück.
Die Geräuschkulisse ähnelt einem normalen Abend: Stimmengewirr, Musik, das Klackern eines Cocktailshakers. Nur ein Geräusch fehlt: Lachen. Alles ist gedämpft, zurückgenommen. Die Musik und die Unterhaltungen, die Blicke und die Gesten. Als müssten sich die Menschen mit ihren Drinks auf ihren Loungesesseln Mühe geben, entspannt über die Stadt zu schauen. Gerade läuft ein Remix von Totos „Africa“. Eine Frau wippt ein paar Sekunden lang übertrieben mit dem Kopf, es ist eine ironische Bewegung, wie wenn es an einem Abend einfach nicht passt und man es trotzdem versucht.
Am Mischpult vor dem Stadt-Panorama steht das DJ-Duo 20 Ritter, das seit Eröffnung der Monkey Bar zwei bis dreimal im Monat hier auflegt. Sie hatten gehofft, heute nicht spielen zu müssen. „Gerade die räumliche Nähe zum Tatort ist mir unangenehm“, sagt Stefan, während sein Freund Matthias auflegt. „Ich hab’ noch gar nicht rausgeguckt, und ich glaube auch nicht, dass ich das sehen will.“ Der Ausblick ist sonst das, wofür die Menschen hierherkommen. „Musik kann auch helfen“, sagt Matthias. Hilft sie heute?
Die Gesichter sagen: eher nicht. Da ist kein „Jetzt erst Recht“-Gefühl, auch keine Andacht. Was die Menschen in diesem Raum verbindet, ist höchstens eins: Lähmung. Auch als ich nach einer Stunde gehe, das Ziel ist die Weserstraße, hat sich das nicht geändert.
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Die Weserstraße in Neukölln ist eine der beliebtesten Feiermeilen der Stadt. Auch unter der Woche haben die Bars hier geöffnet, sie schließen gegen drei oder vier, je nachdem, wann der Letzte geht. Vor den Fenstern stehen Menschen auf dem Gehweg und rauchen. Hinter den Scheiben beleuchten Kerzen die vielen Gesichter. Es ist voll, so wie jeden Abend und irgendjemand verkauft Samosas und Rosen. Ein junger Mann vor mir hat ein Handy am Ohr: „Die war so besoffen, dass sie kaum stehen konnte.“ Ein normaler Dienstagabend in Neukölln. Nur, dass wir ein paar Sekunden später an einer Kirche vorbeilaufen, an der Kerzen und Blumen stehen.
Das erste echte Lachen ist dann endlich im „Tier“ zu hören, eine der hipsten Bars auf der Weserstraße. Überhaupt ist es hier vieles anders als in der Monkey Bar. Die Menschen reden lauter, auf Englisch und Deutsch. Und es ist voller. Es gibt nur noch einen Platz am Tresen – neben einem Paar, Stammgäste im Tier. Sie wohnen um die Ecke.
Ob sie überlegt haben, heute Abend nicht rauszugehen?
„Ehrlich gesagt haben wir gar nicht daran gedacht.“ sagt sie. „Aber es ist schon krass, dass alles jetzt so nah ist, mitten in Berlin.“
Ihr Freund sieht es ähnlich: „Ich hatte gehofft, dass die Menschen hier besser integriert sind und sowas nicht passiert.“
Als ich sage, dass ich vom Breitscheidplatz komme, johlt einer: „Boah, wir hatten gerade noch gute Laune!“
Danach schwenkt das Gespräch von Integrationspolitik zu Weihnachten, zu Grasanbau und Brexit. Einer der Barkeeper, der mit schnellen Händen Cocktails mit rote Beete mixt, sagt: „Ich glaube, viele haben damit gerechnet, dass so ein Anschlag früher oder später hier passiert. Die Menschen sind mitgenommen, aber trotzdem erstaunlich gefasst.“ Für viele ist der Anschlag also kein Grund, nicht rauszugehen. Von Lähmung ist hier nichts mehr zu spüren.
Auch nicht im „Ä“. Es ist jetzt halb eins und auch hier ist es voll – und der Abend deutlich fortgeschrittener. Ich laufe durch die Räume und setze mich zu einer Gruppe, in der mir einer sofort Erdnüsse anbietet – und ein anderer Multivitamin-Shots. Als ich sage, dass ich vom Breitscheidplatz komme, johlt einer: „Boah, wir hatten gerade noch gute Laune!“
Sie sind Stammgäste, Berliner, und sie lassen sich von Terror nicht den Abend verderben. Einer von ihnen hat einen langen Bart. Er werde bei jeder Flughafenkontrolle rausgewinkt, sagt er. Er spricht kurz über Vorurteile in der Stadt, über türkische Freunde, die Maler sind und auf der Straße wie Obdachlose behandelt werden, wenn sie noch ihre Berufskleidung tragen. Dann driftet auch dieses Gespräch ab.
Dann passiert, was in Berliner Bars um diese Uhrzeit eben passiert. Ich bin auf einmal Teil einer Gruppe, die seit neun Jahren jeden Dienstag an diesem Tisch sitzt. Ich soll nächste Woche wiederkommen, sagt der mit dem Bart. Er möchte mit mir über Nietzsche reden. Dann bekomme ich noch einen Shot in die Hand gedrückt. „In Berlin bist du nie allein“, sagt der mit den Erdnüssen zu mir. Die Geschehnisse werden vielerorts aufgefangen von genau dieser Berliner Weggehkultur, bei der sich jeder an jeden Tisch setzen kann. Das könnte an jedem Abend so sein, doch heute ist es besonders wichtig.
Alltag und Terror mischen sich schließlich ein paar Tage vor Weihnachten auf eine besonders perfide Weise: Geschenke einpacken und durch den Newsfeed scrollen, Briefmarken auf die Weihnachtspost kleben, während die Nachrichten mit Eilmeldungen volllaufen, Cocktails trinken, während der Täter noch frei rumläuft. Kein Wunder, dass das in der Monkey Bar noch nicht gut funktioniert. Entspannt Cocktails neben einem Anschlagsort zu trinken, das ist vielleicht zu viel verlangt.
An anderen Orten, die weiter vom Geschehen entfernt liegen, gelingt der Spagat schon besser an diesem Abend. Wie ein bewusstes Statement gegen den Terror fühlt es sich trotzdem nicht an. In Berlin abends durch Bars und Clubs zu ziehen, gehört zum Alltag, für viele ist es fast ein Automatismus – keine Kampfansage und vielleicht auch keine bewusste Trauerbewältigung. Eher eine Grundhaltung, mit der sich vieles überstehen lässt. Das ist doch schon viel.
Eine Stadt muss sich nach einem Anschlag schließlich die Normalität erst langsam wieder erkämpfen. Jede Stadt, jeder Mensch, der dort lebt, tut das auf eigene Weise. Für die Berliner heißt das vielleicht gerade noch, mit einem Bein zu tanzen und mit dem anderen stillzustehen.