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Die Gefahr von Sifftwitter
Man findet die derben Witze ziemlich schnell, wenn man #Breitscheidplatz oder #Berlin in die Twitter-Suche eingibt und ein wenig scrollt. Die meisten sind so geschmacklos, dass wir sie hier nicht zeigen wollen. Wir beschränken uns deshalb auf das Bild des Berliner Rappers MOK. Weil es nicht nur geschmacklos ist, sondern auch gefährlich. Und weil es seit Jahren immer wieder auftaucht, wenn Menschen Fake-Bilder von Terrorverdächtigen posten. Auch nach dem Anschlag in Berlin wieder.
Der aktuelle Post mit ihm wurde inzwischen gelöscht. Buzzfeed hat aber schnell genug einen Screenshot gemacht und noch Montagabend auf den Fake-Charakter hingewiesen. Ein Typ namens „Biervernichter Bobby“ hatte ein Foto von MOK getwittert – verbunden mit der Behauptung, dieser sei Kurde und außerdem der Fahrer des LKWs gewesen.
„Auf Facebook markieren sich alle in Sicherheit, ändern ihr Profilbild und posten #jesuisberlin. Auf Twitter jagen wir unerbittlich den Favs nach“, twitterte der User Skinny nach dem Anschlag. Was er damit meint: Während auf Facebook Trauer herrschte, setzten jede Menge Twitter-Nutzer makabre Tweets ab. Sehr oft an der Grenze der Legalität. Sehr oft auch weit darüber hinaus. Etwa, wenn sie Tote verunglimpften.
„Sifftwitter“ nennt sich das Phänomen. Der Begriff ist erstmals im September dieses Jahres in einem Artikel aufgetaucht. Der Autor sieht in den Protagonisten „die schlimmste Hasscommunity im Netz“, bestehend aus Trollen, Populisten und Hetzern. Seinen Ursprung hat es vermutlich im Hip-Hop-Forum RapUpdate. Ein Boulevard-Portal, das mit Clickbaiting-Headlines über die Rap-Szene berichtet – und Kommentare unter den Artikeln zulässt, die man nach Beliebtheit hoch voten kann.
„Dort hat sich das Spiel entwickelt, den möglichst witzigsten Kommentar zu verfassen“, erklärt Skinny am Tag nach seinem Favs-Jäger-Tweet am Telefon. Dieses Spiel setze sich nun eben auf Twitter fort – in dem sehr losen und doch in sich sehr stimmigen Troll-Netzwerk, das sich von Zeit zu Zeit so verselbstständigt, dass es in den Mainstream schwappt. Die überall und immer wieder verwendeten Ausdrücke „1“ und „vong ... her“ sind harmlose Beispiele dafür. Fake-News wie der angebliche Täter MOK die weniger harmlosen. Etwa 200 bis 250 Accounts sollen aktiv beteiligt sein. Skinny ist einer von ihnen.
„MOK in Katastrophen-Fällen zu beschuldigen, ist ein Evergreen geworden“
„Man kann auch über Makabres lachen“, sagt er. Er möchte hier anonym bleiben. Genau in diesem Punkt liegt der entscheidende Unterschied der beiden sozialen Netze: Während man auf Facebook mit Klarnamen und Profilbild postet, kann man auf Twitter unerkannt bleiben. „Ich glaube sogar, dass viele ein Doppelleben führen“, sagt Skinny. „Auf Facebook trauern, auf Twitter derbe Witze machen.“
Wie eben jenen mit MOK. Den Berliner ständig irgendwelcher Gräueltaten zu bezichtigen, ist auf Twitter längst ein flacher Running Gag. Musikalisch ist es um den Rapper aus dem Umfeld von Aggro Berlin ruhig geworden. Wenn er auffällt, dann eigentlich nur noch durch Diss-Attacken von Farid Bang, der sich in verlässlicher Regelmäßigkeit über ihn lustig macht. Und eben bei Katastrophen. „MOK in Katastrophen-Fällen zu beschuldigen, ist ein Evergreen geworden“, sagt Skinny. Warum? „Pure Unterhaltung. Mehr nicht.“ Er könne sich aber auch vorstellen, dass Menschen, die noch nie etwas von MOK gehört oder gesehen haben, ernsthaft an dessen Schuld geglaubt haben.
Und eben das ist der Punkt, an dem die grenz-legale, makabre Twitterei spätestens schwierig wird. Wenn jemand glaubt, was er sieht und liest, und tatsächlich denkt, der Rapper auf dem Foto sei ein Terrorist.
Die der Sifftwitterei zuzuordnenden Nutzer rechtfertigen ihr Tun mit dem Charakter der Satire. „In der Regel geht es darum, Bilder der Person oder solche, die Assoziationen zu dieser wecken, in einen anderen Kontext zu stellen“, schrieb "twfuiooo" als Antwort auf die Namensgebung von „Sifftwitter“. So funktioniere nicht nur Satire, sondern auch Memes im Allgemeinen. „Was sich geändert hat, ist, dass nicht mehr nur Spitzenpolitiker ‚Opfer’ von satirischen Kampagnen, die selbstverständlich auch ihre unschönen Seiten haben, werden können. Auf Twitter herrschen diesbezüglich demokratische Zustände.“
Zur Erinnerung: Satire mag viel und vielleicht sogar alles dürfen, sie definiert sich aber durch Spott, Ironie und Übertreibung, durch die bestimmte Personen, Anschauungen oder Zustände kritisiert werden.
Wenn aber, auch das ist schon mehrfach passiert, mal wieder ein Privatfoto von jemand völlig Unbeteiligtem gepostet wird, der angeblich bei einer Katastrophe oder einem Anschlag gestorben ist – dann ist das keine Satire mehr. Es ist eine geschmacklose Falschmeldung, ein Hoax, der Menschen öffentlich verletzt oder beleidigt. Anders als etwa bei Spitzenpolitikern kennt schließlich quasi niemand die Personen auf den Fotos. Und damit kann auch niemand den Fake-Charakter der Bilder erfassen.
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Was zeigt, dass es den Trollen nicht, wie einige behaupten, um politische Aufklärung geht – oder die anarchistische Freude am Chaos. Es geht ihnen um pure Unterhaltung. Oder, noch schlimmer, Ruhm. „Sehr hart ausgedrückt kann man sagen: Wir schlachten die Tragödien anderer für unsere eigene Publicity aus“, sagt Skinny.
Er plädiert trotzdem dafür, Tweets das sein zu lassen, was sie sind: „Einfach nur Tweets.“ Von denen eine mittelgroße Gruppe eben einen nach dem anderen „raushaut“, um in ihrem internen Wettbewerb als der Lustigste und Kreativste zu glänzen. Resonanz und Anerkennung treibt das Netzwerk der Sifftwitterer an.
Das Problem: Die Sifftwitterer mögen ihren Wettbewerb als internes Spiel untereinander begreifen. Leider kann aber jeder andere Internetnutzer das, was sie dabei absondern, jederzeit sehen. Ohne von dem Spiel zu wissen. Ohne den Kontext, der wichtig wäre, um die Satire als solche zu erkennen – wenn es denn überhaupt eine ist. Und dann können diese Tweets alles andere als harmlos sein.