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In Finnland ist Trend, alleine und halbnackt auf dem Sofa zu saufen

Nackt bis auf die Unterhose auf dem Sofa sitzen und sich besaufen – spaßig oder bemitleidenswert?
Illustration: Federico Delfrati

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Die Alkolumne handelt vom Trinken. Von den schönen und schlechten Seiten dieses Zeitvertreibs und den kleinen Beobachtungen und Phänomenen an der Bar. Aber egal, worum es gerade geht, lieber Leser – bitte immer daran denken: Ist ungesund und kann gefährlich sein, dieser Alkohol. 

Es ist ein Dienstagabend im November, ich bin auf dem Nachhauseweg und freue mich. Denn ich werde mich gleich, sobald ich die Wohnungstür hinter mir gelassen habe, bis auf die Unterwäsche ausziehen, aufs Sofa fläzen und viel Bier trinken. Hört sich vielleicht assi an, ist aber der neueste Trend. Er heißt „Kalsarikänni“, beschert haben ihn uns die Finnen.

Um „Kalsarikänni“ zu erklären, muss man etwas ausholen: Weil das Leben im Norden widrig ist, geben sich die Norweger, Finnen, Schweden und Dänen besonders viel Mühe, um die langen Wintermonate ohne größere Schäden für Leib und Seele zu überstehen. Und so wurden die Skandinavier im Laufe der vergangenen Jahrzehnte zu Experten im gemütlichen Einrichten und darin, sich das Leben in dieser Wohnhöhle so gemütlich wie möglich zu gestalten.

„Kalsarikänni“ bedeutet im Grunde nichts anderes als „Unterhosenschwips“

Und weil wir in einer globalisierten Welt leben, ist diese skandinavische Lifestyle-Expertise erst in die Einrichtungs-Blogs, dann in die Zeitschriften und mittlerweile sogar in unseren Wortschatz übergeschwappt. „Hygge“, „Lykke“, „Lagom“ lauten die allgegenwärtigen Lebensart-Stichworte. Bildlich gesprochen ist „Hygge“ und „Lykke“ und „Lagom“, wenn man sich zuhause einigelt, ein paar hübsche Kerzen anzündet, die Füße in warme Wollsocken verpackt und sich einer Ganzkörper-Entspannung hingibt.

Das ist eine absolut geeignete Möglichkeit, sich durch die dunklen Monate zu hangeln – und eine sehr gesunde dazu. Doch seit kurzem gibt es da eben diesen neuen Stern am nordischen Lifestyle-Firmament, der womöglich auch all diejenigen Menschen abholen könnte, denen all dieses „Hygge“-Getue ein bisschen zu fade, zu protestantisch und zu Wellness-orientiert ist. Und das Beste: Für diese neue Lifestyle-Übung braucht man nichts weiter, als einen vollen Kühlschrank und ein Sofa. Keine Kerzen, keine weiß getünchten Holzmöbel und keine Wollsocken.

An diesem dunklen Dienstagabend kam ich nach einem langen Tag voller kleiner Ärgernisse nach Hause und freute mich schon darauf, Kalsarikänni am eigenen Leib auszuprobieren. Sobald ich die Haustür hinter mir geschlossen hatte, entkleidete ich mich bis auf die Unterwäsche, holte mir ein großes, kaltes Bier aus dem Kühlschrank, schaltete im Fernsehen eine dieser Koch-Shows an, für die keine einzige Gehirnzelle benötigt wird, und wartete auf die finnische Entspannung.

Manche verstehen „Kalsarikänni“ als eine Art finnisches Zen 

„Kalsarikänni“ kann man ähnlich wie die anderen skandinavischen Lifestyle-Schlagworte kaum ins Deutsche übersetzen. Es ist ein Kofferwort aus „kalsari“, auf deutsch „Unterhose“  und „känni“, zu Deutsch: der „Schwips“ - ein Unterhosenschwips also. Doch für die Finnen ist es noch mehr: 

Miska Rantanen hat ein ganzes Buch über den „großen Spaß, sich alleine zu Hause in Unterwäsche zu betrinken“ geschrieben und hat es so definiert: „Kalsarikänni“ heißt, den Abend zielgerichtet, aber ohne Erfolgsdruck zu verbringen. In seinem Buch schildert der Autor Kalsarikänni als eine Art finnisches Zen, einen Zustand, den man am Ende eines ereignisreichen Tages erreicht, wenn alles getan ist, man endlich seine blöden Business-Klamotten ausziehen konnte und sich mit einem tiefen Seufzer aufs Sofa fallen lässt. Finnisches Zen eben, mit dem kleinen Unterschied, dass man Alkohol benötigt, um sich in diesen Zustand rein zu manövrieren.

Diese Art, sich zu erholen, ist laut Rantanen eine alte finnische Tradition. Die Finnen trinken am liebsten zu Hause, was vermutlich an der spärlichen Besiedlung des riesigen Landes (und den langen Wegen zur nächsten Kneipe) liegt. Aber eben auch an den saftigen Preisen, die man in Bars für ein Glas Bier zahlen muss. Kein Wunder also, dass es einen finnischen Ausdruck für die Freizeitbeschäftigung des Zuhausetrinkens gibt.

In Deutschland wird man oft eher bemitleidet, wenn man alleine vor dem Fernseher trinkt

Der Begriff „Kalsarikänni“  ist allerdings noch sehr jung: erst seit den späten 1990er Jahren ist es im Sprachgebrauch aufgetaucht. Und mittlerweile so stark in der finnischen Gesellschaft verankert, dass es sogar im Wörterbuch verzeichnet ist. 

Um ehrlich zu sein: mein Zen-Erlebnis stellte sich nicht ein. Mir war einfach zu kalt, um zu einer wie auch immer gearteten Erleuchtung zu gelangen. Und als ich dann pragmatisch einen Jogginganzug anzog, dämmerte mir, dass dieses Kalsarikänni vielleicht einfach nur ein sehr exotisches Wort für eine Freizeitbeschäftigung ist, die gefühlt 80 Prozent der Deutschen jeden Abend betreiben: Vor der Glotze ein bis fünf Biere leeren und den Kopf von jeglichem Inhalt entleeren.

Bei uns hat diese Freizeitbeschäftigung trotz ihrer weiten Verbreitung keinen so guten Ruf und auch keinen so griffigen Namen. Und das Bild, das man mit diesen Biertrinkern verbindet, ist weniger lifestyle-mäßig, als vielmehr bedauernswert-mäßig. Aber wer weiß: vielleich erleben die Sofa-Bier-Abende auch bei den coolen jungen Leute eine Renaissance, jetzt, da es endlich ein hübsches Wort und sogar ein offizielles Emoji dafür gibt?  Es kommt ja eigentlich immer nur auf die Verkaufe an. 

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