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Nüchtern leben, aber lässig

Illustration: Federico Delfrati

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Die Alkolumne handelt vom Trinken. Von den schönen und schlechten Seiten dieses Zeitvertreibs und den kleinen Beobachtungen und Phänomenen an der Bar. Aber egal, worum es grade geht, lieber Leser – bitte immer dran denken: Ist ungesund und kann gefährlich sein, dieser Alkohol.

Nüchterne Menschen haben ein Imageproblem, zumindest abends beim Ausgehen oder im Restaurant. Wer immer nur Wasser oder Johannisbeerschorle bestellt und einfach nicht mitmachen mag bei Schnapsrunden, kann sicher sein, die gesammelte Rest-Aggression der Gruppe auf sich zu ziehen. Denn wenn man kein offizielles Entschuldigungsschreiben in der Hand hält (Schwanger, Antibiotika, gesundheitliche Gründe), darf man nicht nicht trinken, so lautet eine unverrückbare alte Bauernregel. Da helfen Image-Kampagnen von Polizei („Spaß auch ohne Alkohol und Drogen“) genauso wenig wie solche des Staates („Kenn dein Limit“).

Die Lebensqualität von nüchternen Menschen wird fast immer in Abwesenheit von etwas definiert

Es fängt ja schon damit an, dass die Lebensqualität von nüchternen Menschen fast immer nur definiert wird in Abwesenheit von etwas. Er kann „auch ohne“ Alkohol Spaß haben. Im Gegensatz zu allen anderen. Er bestellt einen „anti-alkoholischen Drink“, er hat am nächsten Morgen keinen Kater. Nun gibt es schon seit Langem Ansätze, das Leben ohne Alkohol cooler aussehen zu lassen. Das ist bislang nur so mittelmäßig gelungen. Vielleicht liegt es daran, dass Menschen, die mit ihrem alkoholfreien Leben an die Öffentlichkeit drängen, oft von Sendungsbewusstsein durchdrungen sind.

Doch seit einiger Zeit häufen sich dank des Internets und vor allem der sozialen Medien Communitys, Websites und Blogs, die genau das versuchen: Nüchternheit cool aussehen zu lassen. „Hello Sunday Morning“ ist eine der größten Communitys mit diesem Ansatz. Die gemeinnützige Organisation aus Australien hat sich auf die Fahne geschrieben, die „drinking culture“ des Landes zu ändern. Ihr Bild dafür ist der Sonntagmorgen, den die meisten jungen Erwachsenen vermutlich eher komatös verbringen oder damit, ihren Kater zu füttern. Warum eigentlich kann der Sonntagmorgen nicht auch mal anders aussehen? 

„Hello Sunday Morning“ ist das Kind von Chris Raine, einem Werber aus Brisbane, der den Auftrag hatte, eine Kampagne gegen „binge drinking“ zu entwickeln, die vor allem junge Menschen ansprechen sollte. Doch er bekam kein einziges Konzept zustande, das bei den jungen Menschen gut ankam. An Silvester 2009 beschloss er mit 25 Jahren, ein Jahr lang auf Alkohol zu verzichten und begann, unter „Hello Sunday Morning“ zu bloggen. In seinem ersten Post schrieb er darüber, wie komisch es sich anfühle, an einem Sonntagmorgen am Schreibtisch zu sitzen und tatsächlich etwas zustande zu bringen, im Gegensatz zu all den anderen Sonntagen, die er komplett verkatert im Bett verbracht hatte ohne die geringste Lust, irgendetwas zu machen.

Inspiriert von dieser Erkenntnis, wollte er seine Freunde überreden, ebenfalls ein Jahr auf Alkohol zu verzichten. Keiner machte mit, also senkte er die Dauer auf sechs, später auf drei Monate. Und er bat seine Freunde, darüber zu bloggen, wie sie diese Zeit erleben.  Mittlerweile ist HSM eine gemeinnützige Stiftung, die auch vom Staat und von Konzernen unterstützt wird. Es gibt eine App, die dabei helfen soll, das eigene Verhältnis zu Alkohol zu ändern. Und wer drei, sechs oder zwölf Monate nüchtern lebt, der wird angeregt, sich für diese Zeit ein Ziel zu definieren – zum Beispiel sportlicher zu werden oder sich beruflich neu zu positionieren.

Temporäre Abstinenz ist für viele junge Menschen sehr attraktiv, denn sie ist überschaubar. Und die meisten trinken nicht deshalb so viel, weil sie Alkoholiker sind, sondern eher, weil es die Gesellschaft so einfach macht, regelmäßig die Kontrolle zu verlieren. Auch der Community-Gedanke hilft dabei, seine Ziele zu erreichen. Denn es ist immer jemand da, der einem bei Durchhängern Mut zuspricht. Das Wichtigste am Gemeinschaftsgedanken ist jedoch, dass man sich nicht so alleine fühlt bei dem Versuch, ein anderes Leben zu führen als gefühlt der Rest des Landes.

Chris Raine hat eine große Hoffnung: Mithilfe von HSM will er die Zahl der Katertage der Menschen halbieren

Ähnliche Websites wie Hip Sobriety, Living Sober, Drink Revolution oder diverse Subreddits wie r/stopdrinking, r/sober oder r/Teetotal unterstüzten Menschen dabei, alkoholfrei zu leben – ob für immer oder für eine überschaubare Zeitspanne.

Chris Raine, der Erfinder von HSM, trinkt heute wieder Alkohol. Allerdings spielt der eine sehr viel geringere Rolle als früher. Er hat eine große Hoffnung: Mithilfe von HSM will er die Zahl der Katertage der Menschen halbieren. Die Website hat mehr als 100 000 Mitglieder und ein Team von Psychologen, das den Teilnehmern dabei hilft, ihre Ziele zu erreichen. Es geht Raine nicht darum, Alkohol zu dämonisieren, sondern eher darum, eine andere Perspektive zu bieten auf eine Kultur, die zumindest in Australien nichts daran findet, dass junge Menschen jedes Wochenende so lange saufen, bis sie kotzen.  

Für Menschen, die nicht trinken, werden Kneipenabende vermutlich auch durch solche Apps in Zukunft nicht unbedingt leichter. Aber wenn man weiß, dass man nicht alleine ist mit seinem nüchternen Leben, dann kann das dennoch sehr hilfreich und tröstlich sein. 

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