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Alkolumne: Helfersyndrom für betrunkene Kotzer
Die Alkolumne handelt vom Trinken. Von den schönen und schlechten Seiten dieses Zeitvertreibs und den kleinen Beobachtungen und Phänomenen an der Bar. Aber egal, worum es grade geht, lieber Leser – bitte immer dran denken: Ist ungesund und kann gefährlich sein, dieser Alkohol.
Ich bin erst seit einer Stunde auf der Party, da schiebe ich schon wieder einen Betrunkenen vor mir her. Es ist mein Bekannter Tom (der eigentlich anders heißt), den ich gerade mit glasigen Augen an einer Säule lehnend aufgeklaubt habe. Auf meine Frage, ob er raus müsse, hat er leicht genickt. Also helfe ich. Das ganze Unterfangen gestaltet sich schwierig: Tom ist über zwei Meter groß, ich also einige Köpfe kürzer als er. Was erschwerend hinzukommt: In dem Gang, durch den wir müssen, quetscht sich Mensch an Mensch – und jeder von ihnen muss sich, anstatt ein wenig zur Seite zu rücken, darüber amüsieren, wie sehr Tom schwankt.
Erst als Tom würgt und sich seine Wangen bedrohlich aufplustern – jeder Umstehende also um seine eigene Sauberkeit fürchten muss – scheren die Leute aus. Es ist zu spät. Tom erbricht sich in den Flur. Draußen dann, halb sitzend, halb liegend, immer wieder auf sich selbst. Ich erspähe einen von Toms Freunden beim Rauchen und bitte ihn, Wasser zu holen, während ich den wehrlosen Tom samt seiner Wertgegenstände hüte. Nö, macht er nicht. Tom habe sich das schließlich selbst zuzuschreiben. Er jedenfalls, nennen wir ihn Basti, wolle seine Partynächte nicht immer damit verbringen, Tom aus dem Suff-Koma zu wecken.
Nur, weil jemand für seinen Zustand selbst verantwortlich ist, ist dieser nicht weniger gefährlich
Ich kann verstehen, dass Basti das ätzend findet. Ich finde es ja selbst ätzend. Tatsächlich passiert Tom das nämlich öfter. Aber in meiner Welt zählen Bastis Argumente nicht. Kann schon sein, dass Tom eigentlich alt genug sein sollte, um seinen Konsum im Griff zu haben. Und auch, dass es seine Freunde nervt, ihn Nacht für Nacht von der Straße kratzen zu müssen. Aber jemanden, der zu viel getrunken hat, einfach so in seinem Erbrochenen zurückzulassen, ist nicht okay. Denn nur, weil ein Mensch für seinen Zustand selbst verantwortlich ist, heißt das ja nicht, dass dieser weniger gefährlich ist.
Im Gegenteil. Ganz offensichtlich sind betrunkene Kotzer gerade die Kotzer, die sich selbst am wenigsten helfen können. Der Alkohol lässt sie schließlich gegenüber sämtlichen Reizen abstumpfen, manchmal sogar ganz bewusstlos werden. Ich jedenfalls habe bei so viel Hilflosigkeit immer das Gefühl, retten zu müssen. Dabei ist mein Helfersyndrom in anderen Situationen gar nicht überdurchschnittlich stark ausgeprägt.
Aber betrunkenen Kotzern will ich sofort eine Decke umlegen, Brot verabreichen, das das Gift aufsaugen soll, und am besten gleich selbst die Kochsalzlösung anschließen. Auch Tom werde ich heute noch so lange unterstützen, bis klar ist, dass er die Nacht auch ohne ärztliche Versorgung übersteht und sich zwei seiner Kumpels erbarmen, ihn nach Hause zu begleiten.
Das könnte vielleicht auch etwas damit zu tun haben, dass schon meine erste Erfahrung mit Alkohol mich selbst zu einer betrunkenen Kotzerin gemacht hat. Und dass ich damals das Gefühl hatte, dass man sich besser um mich hätte kümmern müssen. Vielleicht hat mich das irgendwie besonders sensibilisiert.
Wer bin ich eigentlich, jemanden zu sagen, dass er das Bier loslassen und Wasser trinken soll?
Vielleicht hat es aber auch damit zu tun, dass ich den betrunkenen Kotzern am Ehesten dann begegne, wenn ich selbst zumindest angetrunken bin. Dass ich weiß, wie schnell man sich „übertrinken“ kann, trifft da auf einen besonderen Zustand: Ich bin unter Alkoholeinfluss oft offener, zutraulicher, emotionaler als im nüchternen Zustand. Das zeigt sich dann wohl auch gegenüber denen, die Hilfe brauchen. Und das sind auf Partys halt die richtig Besoffenen.
Wenn ich mal wieder jemandem die Haare halte, mit einer Flasche Wasser neben ihm knie oder gar ein vollgekotztes Bett frisch beziehe, male ich mir oft aus, wie es dazu wohl gekommen sein mag. Ich nehme dann meistens an, dass die Person aus Kummer getrunken hat. Dass dieses oder jenes sie dazu getrieben hat, sich so hemmungslos zu betrinken. Manchmal liege ich damit vielleicht richtig. Ziemlich sicher nicht immer.
Aber das Ganze ist eben oft ein echter Kraftakt, bei dem man sich fragt: „Warum? Wofür?“ Nicht nur wegen der offensichtlichen Aufgaben, die man zu erledigen hat, wenn jemand nicht mehr alleine klar kommt. Sondern auch deshalb, weil man zwar für jemanden sorgen muss, andererseits aber halt auch darauf achten will, dass man ihn nicht bevormundet. Wer bin ich, jemanden zu sagen, dass er das Bier loslassen und Wasser trinken soll? Klar komme ich mir dann manchmal bescheuert vor. Aber solange der Betrunkene sich von mir überzeugen lässt, glaube ich, dass es schon in Ordnung ist, ihm etwas Gutes tun zu wollen.
Plötzlich Verstoßene, Abgehängte, Alleingelassene brechen mir eben das Herz
Im Grunde kann ich mir mein Helfersyndrom gegenüber betrunkenen Kotzern am Einfachsten so erklären: Sie hat ja sonst keiner lieb. Nicht mal ihre besten Freunde (siehe Basti) wollen noch Zeit mit ihnen verbringen, wenn sie so besoffen sind. Es ist schließlich auch kein feiner Anblick, wenn sich jemand so aus dem Leben brezelt. Aber plötzlich Verstoßene, Abgehängte, Alleingelassene brechen mir eben das Herz. Das war schon in der Schule so, als ich mich immer der Mitschüler annehmen wollte, die einfach keine Freunde fanden. Genau wie ich immer für die Fußballmannschaft bin, die hinten liegt.
Das ist meist von wenig positiven Begleiterscheinungen gekürt: Viele meiner „Freunde“ mochte ich eigentlich gar nicht so gern, selten konnte ich mit einer Mannschaft jubeln – und das Kümmern um diverse Kotzer hat mir schon so manche Party vermiest.
Trotzdem glaube ich, dass mein Helfersyndrom in diesem Fall etwas Gutes ist. Denn auch, wenn viele sich während ihres Zusammenbruchs vor mir schämen oder mich fast schon lästig finden – am nächsten Tag haben sie sich bisher immer für die Hilfe bedankt. Außerdem soll man ja so handeln, wie man gerne selbst behandelt würde. Und wenn ich jemals wieder kotzend und regungsunfähig am Boden liegen sollte, will ich wirklich nicht hören, dass ich selbst daran schuld sei. Ich will bekümmert werden.