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Dominik Schottner schreibt in "Dunkelblau" über die Alkoholkrankheit seines Vaters
Bis zu zwei Millionen Deutsche gelten als alkoholkrank. Einer davon war Dominik Schottners Vater. Der heute 35-jährige Journalist verarbeitete seine Kindheit als Sohn eines Alkoholikers in einer preisgekrönten Radio-Reportage. Und nun auch in einem bewegenden Buch: "Dunkelblau" erscheint am 20. März bei Piper. Das Kapitel "Castiglione della Pescaia", in dem er die Urlaube mit trinkendem Vater und leidender Mutter schildert, liest du hier vorab.
Castiglione della Pescaia
Die Übergriffe meines Vaters veränderten fast nichts bei uns zu Hause. Meine Mutter ging nicht zur Polizei, sie weihte auch niemanden anderes ein. Sie hielt es aus.
Mein Vater ging weiter arbeiten, ich kam in die Schule, meine Mutter schraubte langsam ihre Stundenzahl in der Schule wieder hoch.
Jedes Jahr im August fuhren wir für drei Wochen zum Zelten nach Italien und im Winter eine Woche zum Skifahren nach Österreich. Für richtige Hobbys fehlte meinen Eltern die Zeit, vielleicht auch die Lust. Meine Mutter beschäftigte sich eine Weile mit Seidenmalerei und Töpfern. Aber das hörte bald wieder auf. Dafür trat ich mit sieben Jahren dem örtlichen Fußballverein bei, das kostete uns alle Zeit, vor allem an den Wochenenden. Nach außen waren wir eine normale Familie aus einem normalen Reihenhaus in einem normalen Vorort Münchens.
Einmal im Monat aber dürstete es meinen Vater nach dem Exzess. Wir fuhren also alle paar Wochen am frühen Freitagnachmittag nach Rothenburg ob der Tauber, seine Heimatstadt. 250 Kilometer durch den Feierabendstau nach Norden, damit er sich volllaufen lassen konnte.
Nach der Vesper, der Tagesschau und einem feuchten Kuss sagten meine Eltern: „Wir gehen jetzt in die Wolfsschlucht.“ Dann waren sie weg und meine Oma brachte mich ins Bett. Die Wolfsschlucht war, so habe ich es mir erklären lassen, denn ich durfte ja nie mit, eine Kneipe in der Stadtmauer Rothenburgs. Der Ort, wo sich die Freunde meines Vaters, die noch in Rothenburg und Umgebung lebten, regelmäßig zum Stammtisch trafen. Eigentlich eine wunderbare Sache, den Kontakt zu den alten Freunden zu halten. Das gelingt viel zu wenigen Eltern.
Aber wenn meine von diesen Abenden gegen zwei oder drei in der Nacht heimkehrten, war mir das egal. Sie rumpelten so laut ins Haus meiner Großeltern hinein, dass ich wie zu Hause von ihrem Lärm aufwachte. Und ich mich dann beeilen musste, vor meinem Vater, der nicht ohne Grund die Treppe rauffiel, einzuschlafen. Schaffte ich das nicht, war ich seinem grollenden Schnarchen ausgeliefert, das locker durch Wände und Türen drang.
Meine Mutter verabscheute diese Abende zunehmend. Nicht wegen der Freunde – die fand sie super. Aber weil mein Vater sich jedes Mal mit Ansage weghämmerte und am nächsten Tag ohne Probleme bis zum Mittagessen im Bett blieb.
Damals hat es mir nichts ausgemacht, dass mein Vater so lange schlief. Meine Oma wusste die Zeit zu füllen. Sie verwöhnte mich, ihren einzigen Enkel, genau wie ihren Sohn früher. Sie ging mit mir einkaufen, schenkte mir Spielzeug und Klamotten, erzählte mir Geschichten vom Krieg und ließ mich fernsehen. Und natürlich: Das Naschfach stand mir immer offen.
Aber wenn ich jetzt, im Bewusstsein, selbst Vater zu sein, auf diese Wochenenden zurückblicke, frage ich mich schon, wieso mein Vater sich so verhalten hat und wie er das vor sich gerechtfertigt hat. Für ein paar Bier den halben Tag und die ohnehin schon recht knappe Zeit mit dem Sohn verpennen? Und das jeden Monat?
Eigentlich logisch, dass es über dieses Thema häufig Streit gab zwischen meinen Eltern. Zumal meine Mutter von niemandem unterstützt wurde, vor allem nicht von meiner Großmutter. Sie fand es einerseits gut, dass wir zu Besuch waren, andererseits pflegte sie aber auch ein sehr distanziertes Verhältnis zu ihrer Schwiegertochter. Sie wäre ihr eher in den Rücken gefallen, als meinen Vater zu ermahnen. Und so blieb alles beim Alten, auch wenn wir bei meinen Großeltern waren. Niemand, der meinem Vater die Stirn bot, niemand, der ihm Grenzen setzte. Er konnte einfach der sein, der er schon immer war.
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Ein Campingplatz namens "Ohne Sorgen"
Dass er aber auch anders sein konnte, großartig, liebevoll, besorgt, ein Vater, auf den ich stolz sein konnte, das zeigte sich immer im August, wenn wir zum Zelten nach Italien fuhren. Es begann schon beim Beladen des Autos. Meinem Vater gelang es, Kofferraum und Dach so voll zu packen, dass das Auto deutlich in die Knie ging. Die Rückbank aber hielt er frei – für mich zum Schlafen.
Die Strecke war lang, 800 Kilometer, und um Hitze und Staus zu vermeiden, fuhren wir immer mitten in der Nacht los. Weil er aber vor allem ungestört Strecke machen wollte, trug mich mein Vater vom Bett ins Auto, wo ich ohne Unterbrechung weiterschlief und erst nach dem Brenner aufwachte, wenn wir am ersten Autogrill für ein Frühstück hielten. Fünf Stunden fuhren wir an den Zypressenalleen der Maremma vorbei zu unserem Campingplatz in Castiglione della Pescaia.
Der Platz hat einen beinahe programmatischen Namen „Sans Souci“, ohne Sorgen, und er ist eine rare Schönheit. Mitten im Übergang von Pinienwald zu Dünen, ohne rechtwinklig abgesteckte Parzellen, nur mit losen Markierungen aus Büschen und staubigen Trampelpfaden. Und ohne Dauercamper.
Wir schlugen unser Zelt jedes Jahr am selben Ort auf: nahe beim Waschhaus, in der Mitte des Platzes. Zwei bis drei Stunden und etwa 20 Schimpftiraden dauerte es, bis aus Dutzenden sehr schwerer Eisenstangen und mehreren Quadratkilometern sehr schweren gelb-braunen Stoffes ein Zuhause für drei Wochen wurde. Es war so gemütlich und schön, dass ich mich nie gefragt habe, wieso wir nicht einmal woanders Urlaub machten. Zehn Sommer hintereinander.
Ich vermute, die Schönheit kam aber auch daher, dass mein Vater in den drei Wochen tatsächlich von seiner Arbeit abschalten konnte. Alles war wunderbar langsam und mein Vater hatte endlich Zeit für mich.
Während meine Mutter schlief oder las, baute er mit mir am Strand Rennwagen aus Sand und buddelte mich bis zum Hals darin ein. Er erduldete meine ersten Versuche im Beachball und zog mich aus dem Wasser, wenn ich auf ein Petermännchen trat. Abends gingen wir alle zusammen in der Pizzeria am Platz essen und belohnten uns für das harte Sonnen mit einem Eis an der Bar. Wir sagten „Lira“ statt „Lire“ und „Grazie“ statt „Danke“. Wir waren Italiener im Herzen mit Münchner Kennzeichen.
Das Schönste am Urlaub aber war, dass sich meine Eltern kaum stritten. Oder vielleicht sogar nie, das weiß ich nicht mehr genau. Ich erinnere mich jedenfalls an keinen Abend auf dem Campingplatz, der auch nur im Ansatz so war wie der, als der Koffer auf den Tisch flog. Meine Mutter und mein Vater saßen scheinbar einträchtig vor dem Zelt, kniffelten, rauchten und leerten im Laufe der Wochen etliche der großen, bauchigen Korbflaschen Chianti. Manchmal kamen auch die Dicken aus Starnberg dazu, dann waren es gerne auch mal ein paar Flaschen mehr. Der Furor aus unserem Reihenhaus aber war vergessen – vorübergehend.
"Der Rest: sah nichts, hörte nichts und sagte nichts."
All das passierte in den turbulenten Jahren um 1989. Die Wende. Bei uns zu Hause war die ein großes Ding, obwohl wir weder Ostverwandtschaft noch Ostfreunde vorweisen können, allenfalls Interesse an Ostpolitik. Mein Vater hat sein Studium mit einer Arbeit über den Konkurrenzsozialismus abgeschlossen und las regelmäßig die Konkret. Und meine Mutter saß für die sehr sozialdemokratische Vereinigte freie Wählergemeinschaft im Gemeinderat, der zu der Zeit mit Kollegen aus Thüringen anbandelte, damit die nicht in ein großes Bürokratieloch fielen, wenn sie denn kommen würde, die Einheit.
Einmal die Woche ließ meine Mutter mich mit meinem Vater abends alleine zu Hause. Der Gemeinderat tagte. Ich weiß eigentlich nichts mehr über diese Abende. Weder ob mein Vater sich mal ans Kochen gewagt hat, noch ob er an den Abenden auch betrunken war und auch nicht, was wir sonst so gemacht hätten. Nichts. Was aber auch einfach nur heißen kann: Es waren gewöhnliche Abende ohne besondere Vorkommnisse.
Bis auf zwei, die mir in Erinnerung geblieben sind. Das Telefon klingelte, ich hob ab. Ein Kollege meiner Mutter war dran. Irgendwas mit Unterrichtsvorbereitung und Kopieren. „Ich richte es ihr aus!“, sagte ich und legte wieder auf. Da kam mein Vater aus der Küche geschossen und schaute recht grantig. „Wer war das?“ Ich dachte mir nichts dabei und erzählte ihm von dem Gespräch und auch, dass ich diesen Kollegen schon kennen würde, weil ich ihn mal in der Schule getroffen habe. Mein Vater schäumte wortlos. Er sah mich an, als wäre ich der Sprecher meiner Mutter. Irgendwas wurmte ihn sehr an diesem Anruf, aber er wollte es nicht verraten. Stattdessen ging er in den Keller, holte sich eine Halbe Bier und stellte sich damit auf die Terrasse, ohne mich weiter zu beachten. Ich ging ins Bett. Als meine Mutter heimkam, wurde es laut. Und ich wachte davon auf.
Meine Mutter wusste, dass ich diese Streits mitbekam. Sie sagt, sie habe mich sehr wohl auf der obersten Stufe gesehen. Manchmal habe sie mich auch wieder in mein Zimmer zurückgeschickt, manchmal aber eben auch nicht. Um meinen Vater nicht noch mehr anzustacheln. Er sei unberechenbar gewesen, nur nicht gegen mich. Im Vergleich zu den Geschichten anderer Alkoholikerkinder muss ich sagen: Ich hatte wohl Glück. Der Zorn der Abhängigen ist nicht besonders wählerisch.
Vielleicht kann die Zurückhaltung meines Vaters mir gegenüber ein Buch erklären. Er zeigte es mir kurz vor seinem Tod, mit einer Geste, die mir zeigen sollte: Wir als Väter wissen ja jetzt beide, wovon wir reden. Das Buch war ein Ratgeber aus den 80ern, im Titel trug es so etwas Ähnliches wie „Die neuen Väter. Wie man liebevoll zu seinen Kindern ist“. Genau erinnere ich mich nicht mehr, denn mein Vater räumte es so schnell wieder weg, wie er es geholt hatte.
Ich weiß aber noch, dass ich verwundert war, weil ich meinem Vater nicht zugetraut hatte, sich auf theoretischer Ebene so mit Erziehung zu beschäftigen. Andererseits war er halt auch kein stumpfer, uninteressierter Mensch, der immun gegen Verbesserungsvorschläge war. Sie mussten nur von den richtigen Leuten kommen.
Zu denen zählte meine Mutter jetzt immer seltener. Die Gespräche meiner Eltern wurden kürzer und schärfer, drehten sich nur noch um das Nötigste, um Organisatorisches, wer geht einkaufen, wer begleitet mich zum Fußball. Es war, als habe irgendjemand die Liebe aus unserem Haus einfach abgesaugt wie eine lästige Spinne an der Zimmerdecke. Aber die, die diese Liebe einmal in sich getragen haben, waren alle noch da und wussten jetzt nicht, wohin mit ihren Gefühlen.
Nach außen haben meine Eltern den Schein gewahrt, zumindest für die Kollegen meines Vaters bei Pfanni. Nur zwei, mit denen ich über ihn spreche, wussten, dass es bei ihm zu Hause kriselte. Eine Kollegin, weil sie für ihn in den 80ern schwärmte und sich mit ihm Briefe schrieb, was aber keiner wusste. Ein anderer Kollege, weil er einfach nur gut beobachten kann und sich mit meinem Vater ab und zu unterhielt. Er war auch der Einzige, dem die Kaugummi-Vorliebe meines Vaters auffiel. Einmal im Aufzug hätte er sich gefragt, warum er so stark nach Minze riechen würde. Tja, warum? Mehr Bescheidwisser gab es nicht. Der Rest: sah nichts, hörte nichts und sagte nichts.