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13. Dezember
"Was wünschst du dir denn zu Weihnachten?"
Jetzt fing das schon wieder an. Weihnachten, das Fest der gesellschaftlich erzwungenen Großzügigkeit und der krampfhaften Wunschsuche. Letztes Jahr war zum Glück gerade sein Blu-ray-Player kaputtgegangen. Dieses Jahr war Alex wunschlos gleichgültig.
"Alexander?", fragte es irritiert aus seinem iPhone.
- "Jaha.
"Was du dir zu Weihnachten wünschst!" -
"Ja keine Ahnung. Nichts halt."
"Aber du mußt doch einen Wunsch haben, Junge!"
- "Ach, muß ich das?"
"Nun sei doch nicht so!"
- "Ok Mama, ich bin nicht so. Ich wünsche mir ganz sehnlich noch eine von diesen witzigen Motivkrawatten."
Alex hatte eine gutbezahlte Festanstellung, eine stilvoll eingerichtete Altbauwohnung in zentraler Lage, die neuesten Produkte mit dem angebissenen Apfel, er hatte "es geschafft". Was sollte er sich noch wünschen (mal abgesehen von Luxusyacht und Mondflug)? Das ganze Zeug fing an, ihn zu langweilen. Manchmal fragte er sich echt, wozu er das alles eigentlich mitmachte. Oh nein, Alex, ermahnte er sich selbst, nicht wieder diese Gedankenspirale, wo soll das denn hinführen?
In die Kneipe führte es zunächst. Er brauchte jetzt dringend ein Bier und einen Kumpel.
"Hey Alex, was is los?"
- "Ach... So das Übliche. Sag mal, was wünschst du dir eigentlich zu Weihnachten?"
"Chicks!"
Alex seufzte. Was hatte er auch von Michi erwartet? Er war ein guter Kumpel, aber noch in einer ganz anderen Lebensphase. Für ihn selbst war jetzt wohl eher die Zeit gekommen, in der man sich eine Frau suchte, mit der man es vielleicht eine Weile aushalten würde, und dann Kinder machte. Das erschien ihm aber auch irgendwie sinnlos, so dem Arterhaltungstrieb auf den Leim gegangen.
"Ey, Alex..? Was starrst du so?"
- "Ach, ich weiß auch nicht. Meine Mutter fragt, was ich mir wünsche, und ich ende in einer Existenzkrise."
"Alter. Mach mal Therapie!"
- "Was?"
"Ich mein's ernst. Hat mir voll geholfen vor ein paar Jahren."
- "Du hast mal eine Therapie gemacht?"
"Klar, Mann. Wenn du Krebs hast, gehst du auch zum Arzt. Die Tina hat mir auch so ne Art Krebs gegeben, weißt du."
- "Einen Korb hat sie dir gegeben."
"Das war damals fast das gleiche."
Zwei lange Wochen später saß Alex in der einzigen psychotherapeutischen Privatpraxis, in der er kurzfristig vor den Feiertagen noch ein Beratungsgespräch hatte aushandeln können. Es ging hier längst nicht mehr um die Weihnachtsfrage. Es ging ums Prinzip.
"Was führt Sie denn hierher?", fragte die klischeehaft doppelnamige Psychologin.
- "Tja, also, äh, ich weiß nicht so recht..? Sehen Sie, das ist ja genau mein Problem! Ich weiß überhaupt nichts mehr. Ich weiß nicht, was ich mir wünsche, ich weiß nicht, was ich von diesem Leben eigentlich will." Sie machte sich Notizen.
"Wie fühlen Sie sich denn damit?"
Wie er sich damit fühlte? Na, die konnte vielleicht nervige Fragen stellen.
- "Muß ich mich denn damit irgendwie fühlen?"
Sie schrieb wieder auf ihrem Block herum.
"Sie fühlen sich also gleichgültig?"
Na toll, dachte Alex. Die war ja schlimmer als seine Ex. Vielleicht sollte er sein Geld doch lieber wieder in Alkohol anlegen.
Am nächsten Tag, in der Straßenbahn auf dem Weg zur Arbeit,fühlte sich Alex plötzlich irgendwie. Es dauerte eine Weile, bis er herausfand, was es war: Er hatte einen Wunsch.
Und so fuhr Alex an diesem Tag nicht zur Arbeit. Er fuhr zum Hauptbahnhof. Wühlte sich durch Plastikbäume, blinkende Sterne und hektische Menschen mit schweren Einkaufstüten voller Leere. Fand einen Zug und ließ sich einfach wegfahren. Das Stadtzentrum zog vorbei, die Häuser wurden niedriger, dann nach und nach weniger. Stattdessen tauchten immer mehr kahle Bäume auf, dunkelgrüne Nadelbäume, frostmatte Wiesen.
An einer Haltestelle, an der nichts als ein verfallendes Bahnhofsgebäude im landwirtschaftlich geprägten Nirgendwo zu sehen war, stieg er aus. An ein paar stümperhaft besprühten Graffitiwänden vorbei gelangte er zu einem Feldweg. Er fragte sich, was auf diesen Äckern, die jetzt braun und leer waren, wohl angebaut wurde, und wie viele Kühe heutzutage tatsächlich noch auf der Wiese standen wie auf der Milchpackung. Eigentlich seltsam, daß er sein Essen nur aus dem Supermarkt oder Restaurant kannte.
Schließlich ging er querfeldein einen Hügel hinauf, bis er den Waldrand erreichte. Er blickte sich um und betrachtete die Landschaft. Es sah aus, als würde hinter der Baumgruppe am anderen Ende des Hügels eine Nebelmaschine stehen. Plötzlich bewegte sich etwas. Ein Tier, ganz alleine. Größer als ein Hund, aber kein Pferd. Ein wildes Tier! Alex beobachtete es fasziniert, fast ehrfürchtig. Was gab es denn hier, konnte es etwa ein Rentier sein? Und das kurz vor Weihnachten!
Plötzlich ertönte der Gangnam Style.
"Chef?"
- "Wo bist du, verdammt?"
"Ich hab ein Rentier gesehen!"
- "Alex, du sollst doch nichts rauchen, bevor wir ein wichtiges Projekt haben!"
"Ich brauch ne Auszeit."
- "Auszeit?? Es gibt keine Auszeit!"
"Na gut. Dann kündige ich eben."
- "Sag mal, spinnst du jetzt total?!"
"Vielleicht", sagte Alex seelenruhig. Er ließ den Chef - pardon, den Ex-Chef - mit einem Touch des Screens verschwinden, legte sich in das welke Gras und blickte zwischen den Bäumen hindurch in den graublauen Dezemberhimmel.
Der Text stammt von ein_oxymoron