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"Ich war entsetzt und sprachlos"
"Politisches Engagement, Kandidatur für den Bundestag, Wahlkampf – mein Werdegang im Jahr vor der Bundestagswahl 1998 war sehr bewegend. Und dann war ich im Herbst 1998 Bundestagsabgeordnete. Aus meinem Hobby Politik wurde mein Beruf. Mit großen Erwartungen ging ich nach Bonn (war ja damals noch Regierungssitz).
Geraume Zeit später saß ich in meiner ersten Ausschusssitzung im Innenausschuss und ging mit der Begeisterung einer Überzeugungstäterin ans Werk. Mein erstes Thema dort bezog sich auf Änderungen im Beamtenrecht. Rot-Grün war an die Regierung gekommen und wir hatten im Wahlkampf eine Erneuerung der gesellschaftlichen Strukturen und umfassende Reformen angekündigt. Also machte ich mich voller Energie an die Sache und setzte mich für eine weitgehende Reform des Beamtenrechts ein. Dabei bin ich recht weit gegangen und habe die reine grüne Position vorgetragen und nicht die zurückhaltende der Koalition.
Die Reaktionen waren ernüchternd. Die - meist männlichen - Kollegen im Ausschuss wurden laut und grölten mich nahezu nieder. So etwas hatte ich bereits im Wahlkampf erlebt und war daher nichts, was mich sehr überraschte. Was mich allerdings ziemlich umhaute, waren Kolleginnen und Kollegen aus meiner eigenen Fraktion. Während der Sitzung wendeten sie mir demonstrativ den Rücken zu. Nach der Sitzung lud mich eine Kollegin zum Kaffeetrinken ein. Anders als erwartet verlief das Gespräch jedoch nicht gerade aufmunternd. Denn sie sagte: „Weißt du, manche Menschen werden per Zufall in den Bundestag gewählt. Entweder sie sind gut und bleiben oder sie verlassen bald wieder die politische Bühne. Du gehörst zur zweiten Kategorie.“ Ich war entsetzt und sprachlos. Diese Ernüchterung war schmerzhaft! Der politische Gegner lauerte nicht nur in den gegnerischen Parteien. Mein politisches Grundvertrauen war erst einmal zerstört.
Inzwischen bin ich schon einige Jährchen dabei und nunmehr stellvertretende Vorsitzende der grünen Bundestagsfraktion. Gerade erst habe ich eine Abstimmung in der Fraktion verloren. Es war aber bei weitem nicht so dramatisch. Zum einen bin ich immer noch eine Überzeugungstäterin und eine leidenschaftliche Parlamentarierin. Zum anderen weiß ich, dass Politik immer ein Wettbewerb um Ideen und Aufmerksamkeit ist. Den sollte man aber persönlich nicht zu nah an sich rankommen lassen. Viele andere Abstimmungen habe ich gewonnen und auch sehr viel Unterstützung und Freundschaft in meiner Fraktion erfahren. Es gilt immer wieder aufs Neue, Verbündete zu suchen und Kollegen und Kolleginnen zu überzeugen."
Zum einführenden Text der Geschichte "Das Ende der Unschuld" geht es hier. Zur Übersicht mit den 20 Abgeordneten, die über ihre Ernüchterung in der Politik erzählen oder schreiben, kommst du hier.
Text: jetzt-Redaktion - Illustration: Katharina Bitzl