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Zeit alleine, Zeit zu zweit

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Dass Beziehung auch Kompromiss bedeutet, wissen die meisten von uns seit der sechsten Klasse. Ich weiß es seit der zwölften. Nur dass es damals ja ohnehin anders war mit den Kompromissen, denn man wollte ja ständig beieinander sein, dieses neuartige Gefühl der Anziehung, das war einem so fremd und unbekannt, dass man nicht anders konnte, als jeden einzelnen Gedanken um den anderen kreisen zu lassen.  

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Will man dann irgendwann wieder als selbstbestimmtes Wesen vor den Spiegel treten, ist es an der Zeit, diese Phase der Identifikation über den Partner hinter sich zu lassen. Das habe ich dann ganz gut ausgeführt. Anders ausgedrückt: Ich habe mich in meinem Beziehungsleben eher rar gemacht. Und so folgte, dass der häufigste an mich gerichtete Beziehungsvorwurf war, dass ich ja nie Zeit hätte.  

Unter dieser Maßgabe lernten auch Nadine und ich uns kennen. Und das Thema begleitete uns wie ein treuer Freund über all die Jahre unserer verschiedenen Beziehungsstadien bis zum Tag unserer Wohnungseinrichtung. Während mein Oberkörper professionelle Ruhe suggerierte, schlotterten meine Knie ganz schön, als wir verschiedene Layouts unserer nun kommenden gemeinsamen Zeit durchgingen.  

Die Vorstellung, in der jeder von uns einen eigenen Raum für die Zeit allein bekäme und wir zusätzlich einen gemeinsamen Raum für die Zeit zu zweit hätten, musste als erstes am Altar der Möglichkeiten geopfert werden. Denn erstens wollte keiner im eiskalten Schlafzimmer residieren. Und zweitens musste der dritte Raum der Wohnung vom Vermieter versiegelt werden, damit wir uns die neue Wohnung überhaupt leisten konnten. Scheiß Armut!  

Blieb also ein (kalter) Raum zum schlafen und einer für den Rest. In meinen kompromissbereiteren Vorstellungen hätte ich dann zumindest einen Platz gefunden, der den Blick auf den Fernseher ermöglichte, während mein Monitor abgeschottet einen Hauch von Privatssphäre geboten hätte. Schön fantasierte ich mir schon die klugen Kommentare zu Nadines Nouvelle-Vague Filmen zusammen, während ich im geheimen viel profaneren Dingen (Computerspielen zum Beispiel) würde nachgehen können: "Achja, sehr interessant, wie die caméra stylo den Auteur unterstützt (baller-baller-baller)".  

Am Ende kam es dann erwartungsgemäß ganz anders. Ich sitze jetzt an der Wand, mit dem Rücken zum Fernseher. Nadine hat von hinten einen ganz guten Blick auf alles, was ich so tue und kommentiert eifrig von der Couch, während sie selbst gut gedeckt ihren Mac auf dem Schoß balanciert. In Benthams Panoptikum fühlt man sich vermutlich unbeobachteter als ich hier in meiner neuen Zeit zu zweit.

Und die vielbesungene Zeit allein, wo gibt es die dann noch? Die gibt es eigentlich jeden Tag eine Stunde und am Samstag gelegentlich über den ganzen Tag. Dann nämlich ist Nadine tief versunken in Guidos Suche nach der "Shopping Queen" und da sie sich selbst im tiefsten Sumpf der Unterhaltungskultur  bewegt, gelingt es auch mir gelegentlich, einen Titel aus dem unteren Fach unseres Kulturregals zu greifen und wenn schon nicht für die eigene, wenigstens für die Freiheit von Aliens, Geiseln oder gefangenen Testsubjekten zu kämpfen. So ist das halt mit den Kompromissen. Am Ende inszenieren sich beide als Verlierer, aber jeder ist heilfroh, sich eigentlich nicht ändern zu müssen.

Auf der nächsten Seite: Nadine auf der Suche nach der goldenen Mitte zwischen Alleinsein und Zu-zweit-sein.


Vor ein paar Jahren, als Sebi noch in der Phase war, in der ich mich nie auf seinen Schreibtischstuhl setzen durfte, weil er dann Panikanfälle bekam, gab es zwei unausgesprochene Regeln zwischen uns: 1. Wir trafen uns höchstens alle zwei Tage. 2. Wenn wir den vorherigen Tag bereits zusammen verbracht hatten, ging nach dem Frühstück von Tag zwei jeder seines Weges. Und das fanden wir beide eigentlich ganz gut, denn Paare, die immer zusammen rumhängen, sind uncool.  

Später, als wir eine Fernbeziehung hatten, fielen unsere geheimen Regeln der Tatsache zum Opfer, dass wir uns nur alle drei Wochenenden sahen und somit entweder gar keine oder die ganze Zeit zusammen verbrachten. In dieser Phase versuchten wir dann, alles Wichtige unter der Woche zu erledigen, damit wir an den Wochenenden nur tolle Dinge unternehmen konnten – ins  Kino gehen, Kanu fahren oder über den Flohmarkt spazieren zum Beispiel. Obwohl wir vorher befürchtet, dass wir für eine Fernbeziehung völlig ungeeignet wären, weil Sebi mich zwei Tage nach seiner Abreise wieder vergessen haben würde und ich es gekünstelt fände, Ausflüge zu organisieren, schlugen wir uns ziemlich gut. Wenn ich zu Besuch war, kaufte Sebi leckeres Frühstück, und wenn er nach Berlin kam, reservierte ich Karten für die Schaubühne.  

Das Zusammenziehen bot zwar die schöne Chance, nun mehr Zeit zusammen verbringen zu können, gleichzeitig barg es aber auch eine Gefahr – nämlich die, dass unsere gemeinsame Zeit plötzlich nicht mehr so besonders sein würde. „Wir dürfen uns auf keinen Fall auseinanderleben! Wir wollen kein eingefahrenes altes Ehepaar werden! Wir werden niemals aneinander vorbeileben!“ proklamierten wir deshalb aus tiefer Überzeugung und nahmen uns vor, all die schönen Besonderheiten beizubehalten, die wir uns in der Fernbeziehungszeit angewöhnt hatten: Rührei zum Frühstück, Ausflüge machen, die Nächte durchquatschen und so weiter.  

Nach zwei Wochen Zusammenwohnen hatten wir einen erhöhten Cholesterin-Spiegel, leere Geldbeutel und waren ständig müde. Ich kam nicht dazu, meine Texte für die Arbeit zu schreiben, wenn Sebi im Zimmer war, weil mein Gehirn noch voll auf „Wir müssen die gemeinsame Zeit doch nutzen!“ eingestellt war und Sebi war schon ganz übel von unserem Herumgekoche.  

Keiner hatte den anderen damit kränken wollen, dass seine ständige Anwesenheit, die vielen Events und diese Unmengen an Rührei überhaupt nicht so toll waren, wie man es sich die letzten 14 Tage gegenseitig beteuert hatte. Als wir erkannten, dass wir dasselbe fühlten, waren wir sehr erleichtert. Endlich konnte Normalität in unseren neuen vier Wänden einkehren! Noch am selben Abend verschwand jeder hinter seinem eigenen Computer – und als Sebi von meiner Musik genervt war, setzten wir uns beide Kopfhörer auf und hörten von da an auch noch unsere eigene Musik. Zum Abendessen bestellten wir Pizza.  

Die folgenden 14 Tagen verbrachte jeder auf seiner Zimmerhälfte. Wenn einer den anderen ansprach, erhielt er wegen der Kopfhörer selten eine Antwort. Das Schlimmste war jedoch: Jetzt, da wir unser wahres Gesicht offenbarten, fanden wir einander ziemlich gewöhnungsbedürftig.  

Sebi hatte es eigentlich immer ganz süß gefunden, wenn ich erzählte, dass ich ab und an mal „ironisch“ eine Dokutainment-Sendung guckte. Jetzt, da er mich in natura vor „VoxNow“ sitzen sah, hielt er mich für eine konsumgeile Kapitalistin. Mir wiederum hatte Sebi in all den Jahren immer gehaltvolle Computerspiele wie „Dear Esther“ und „Portal“ näher gebracht, die mein Verständnis für sein Hobby geweckt hatten. Als er sich jetzt plötzlich mit seinen Uni-Freunden zum „Counter Strike“-Spiel traf und „Niceeee! Vier Kills!“ in ein merkwürdiges Headset rief, erkannte ich den freundlichen und intelligenten Mann, in den ich mich eigentlich mal verknallt hatte, nicht mehr wieder.  

Das Résumé war bitter: In den ersten zwei Wochen hatten wir einander das Glück vorgespielt, in den zweiten zwei Wochen mussten wir uns ständig streiten. Jetzt half uns nur noch der Rat von unseren Freunden Lilly und Christoph, die schon mehr Erfahrung im Zusammenwohnen hatten. Und die erklärten uns das Offensichtliche, nämlich dass Christoph zwei oder drei Mal pro Woche „Counter Strike“ spielen darf.  
Auch wenn man sich für seine Beziehung immer das Besondere wünscht, ist es doch bei allen dasselbe: Man trifft sich eben in der goldenen Mitte. Nach einem Monat voller Extreme, aneinander Gewöhnen und Einpendeln läuft es seit diesem Monat schon viel besser: Etwa drei Mal pro Woche sitzen wir mit Kopfhörern vor unseren Computern, Sebi geht Fußballspielen, ich geh in den Chor und Schwimmen, etwa vier Mal pro Woche gehen wir raus, treffen Freunde, arbeiten was zusammen oder schauen Filme. Und Rührei – das gibt’s Gottseidank nur noch am Wochenende. 

nadine-gottmann


Text: sebastian-hilger - Illustration: Yinfinity

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