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Weihnachten oder Zweinachten? 582992
Sebastian:
Als es schon fast sehr weihnachtete, beschlossen Nadine und ich, ihren Eltern, ihren vier Geschwistern und ihrem übergewichtigen Hund einen Besuch abzustatten. Dabei kamen einige überraschende Dinge zu Tage. Zunächst fiel auf, dass Nadines spielebegeisterte Familie trotz rudimentärer Erfahrungen in interstellarer Raumfahrt ein erstaunlich ertragreiches Space-Alert Debüt gab. Und während Nadines pazifistische Mutter hauptsächlich Schutzschilde auflud und ihr Bruder mit stählernen Kampfrobotern im Schlepptau das Schiff nach Eindringlingen durchsuchte, blieb mir kurz die Gelegenheit, über das Thema Weihnachten insgesamt nachzudenken.
Weihnachten hat viel Potential. Als Kind konnte man nächtelang vorher nicht schlafen, weil man so aufgeregt wegen der Geschenke war. Heute sind es dann bisweilen die einzigen Nächte im Jahr, an denen man überhaupt mal richtig schlafen kann. Zuhause bei den Eltern muss man sich ja um (fast) nichts kümmern, wackelt um die Mittagszeit mal ins Wohnzimmer, nur um kurz danach vor dem Fernseher zu landen und sich Serien anzuschauen. Während man das natürlich auch den Rest des Jahres versuchen kann, ist das Besondere an Weihnachten, dass auch niemand etwas anderes von einem verlangt. Irgendwie steht ja ohnehin die ganze Welt auf Pause und geht erst nach dem obligatorischen Neujahrskater langsam wieder in ihre alltägliche Betriebsamkeit über.
Weihnachten ist bei uns zu Hause auch eine Zeit unumstößlicher Rituale. Es gibt den notgedrungenen Gang in die Kirche, es gibt Fleischeintopf von Mama (obwohl ich Vegetarier bin) mit anschließender Beschallung durch ihre einzige weihnachtliche CD, mein Papa raucht Zigarillos und irgendwann verschwinden mein Bruder und ich dann zum Call-of-Duty-Spielen, dessen neuesten Ableger ich ihm wie jedes Jahr zum Geburtstag geschenkt habe. Und so kommt es, dass man sich wieder wie ein Kind fühlt. Schaut man sich bei seinen Altersgenossen um, dann fällt auf, dass es eigentlich alle genauso machen. Erst dadurch werden ja auch die schönen, althergebrachten weihnachtlichen Duelle in den Kategorien Warhammer, Starcraft und Diablo 2 mit den alten Freunden möglich.
Letzte Woche fragte mich Nadine, ob nicht irgendwann dieser Begriff von „meiner Familie“, den wir beide noch so stark mit einem Ort voller Fleischeintöpfe, Gesellschaftsspiele und übergewichtiger Hunde verbinden, auf einen anderen Ort, nämlich den einer eigenen Familie übergehen werde. Und ich schließe eine Frage an: Wenn der Begriff von „meiner Familie“ einen neuen Ort gefunden hat, wie bezeichnet man dann den Ort, der bislang so hieß? Ich persönlich muss sagen, dass mir diese eine Woche Pause vom Erwachsenensein total gut gefällt, aber meine eigenen Eltern legen sich über die Feiertage ja auch nicht bei meinen Großeltern auf die Couch, lassen sich Kekse bringen und spielen mit ihren Geschwistern Ballerspiele.
Auf jetzt.de war vor einiger Zeit dieser erschreckende Test verlinkt, der nach Angabe von Besuchshäufigkeit und Jahrgang der Eltern vorhersagte, wie oft man noch die Eltern besuchen könne, bis es sie irgendwann nicht mehr gibt. Abgesehen davon, dass einem die vom Test ausgespuckte Zahl ohnehin durch Mark und Bein ging (weil sie so unerwartet klein war), muss man sich fragen, ob sie nicht noch viel kleiner sein müsste, wenn irgendwann der Ort, den man mit „meine Familie“ verbindet, neu bestimmt wird.
Ich für meinen Teil weiß noch nicht, wie das wird, und ich hoffe sehr, eine Lösung dafür zu finden. In diesem Moment mussten meine Gedanken enden, denn Nadines Familie blickte mich fragend an: Torpedos abfeuern oder Laserkanonen? Eins war klar, ich musste das zu Ende denken, aber erst mal musste hier ein Schiff verteidigt werden und dann, irgendwann danach, würde man weitersehen.
Nadine:
Als meine Schwester zehn und ich 13 war, machten wir ein Spiel, bei dem wir beide einen Tag in unserem Leben in 15 Jahren aufschreiben mussten. Mein Tagesablauf ging in etwa so: Nach einem reichhaltigen Frühstück um 9 Uhr kommen die Zwillinge (Lilli und Lara) in den Kindergarten, bevor ich mich auf den Weg zu meinem (Halbtags-)Job am Theater mache. Meine Inszenierung läuft gut und nach einem Interview mit der Lokalzeitung schaue ich noch bei meiner Schwester (auf der Pferdekoppel) vorbei. Mein Mann (Anwalt) macht mal wieder früher Feierabend und wir laden noch Freunde zum Raclette-Essen auf unsere Terrasse (auch dort grasen Shetland-Ponys) ein. Ich schließe diesen wunderbaren (für mich normalen) Tag damit ab, noch ein wenig an meinem (neuen) Roman zu schreiben. Hätte ich mein dreizehnjähriges Ich damals nach meinem Weihnachtsfest gefragt, hätte ich aus tiefster Überzeugung von verschneiten Winterspaziergängen gesprochen, von den als Engel verkleideten Lillis und Laras und Grußkarten unter dem Weihnachtsbaum von der Freundegesellschaft des städtischen Schauspielhauses.
Sebi sagt, mein größtes Problem sei, dass ich mir Dinge vorher immer schön ausmale und dann enttäuscht bin, wenn meine Erwartungen unterboten werden. In diesem Fall atme ich allerdings erleichtert auf, dass meine Zukunftsvisionen nicht wahr wurden und ich statt in einer Polly-Pocket-Welt in einem ganz normalen Leben lebe. Doch je älter ich werde, umso schwieriger wird das mit dem Thema Weihnachten. Während bei meinen Eltern an Heiligabend seit Jahrzehnten die Zeit stehen geblieben ist – sie imitieren glöckchenklingelnd das Christkind und wenn wir ins Zimmer kommen erklären sie uns mit traurigen Augen, es sei gerade verschwunden – stellt sich mir langsam die Frage, wie man es eigentlich schafft, das Christkind 27 Jahre in Folge so knapp zu verpassen. Grübelnd drängle ich mich zwischen meinen Mittzwanziger-Geschwistern auf der Wohnzimmer-Couch zu Flöten-, Keyboard- und Gesangeskunst.
Das Zusammenziehen mit Sebi bot die einmalige Chance, altgediente Traditionen aufzugeben und neue zu begründen. Schließlich sind wir ja jetzt erwachsen. Am Anfang waren wir so motiviert, dass wir kurz davor waren, uns zum jetzt.de-Plätzchentausch anzumelden, am Ende aber doch erleichtert, dass wir erst mal privat unser Backtalent erprobt haben, bevor wir damit an die Öffentlichkeit gingen. Das Ergebnis war nämlich ein Teig für Zimtschnecken, den wir wegwerfen mussten, weil wir ihn nicht mehr von der Folie abbekamen, ohne sie dabei zu zerreißen (im Rezept stand „Schwierigkeitsgrad: simpel“). Dann Haferflocken-Plätzchen, die bei unseren Freunden unter dem Namen „Steine“ Bekanntheit erlangten. Und schließlich Oreo-Kekse, die im Backofen zu handgroßen Fladen heranwuchsen. Die schmeckten zwar super, waren aber nur zu empfehlen, wenn man noch nicht zu Abend gegessen hatte.
Unsere nächste Idee bestand darin, das Weihnachtsfest dieses Jahr in unseren eigenen vier Wänden auszurichten: beide Familien einladen, unsere Omas in der WG über uns einquartieren, zum Weihnachtskonzert meines Chors gehen. Die einzige Frage war, was wir den zahlreichen Gästen zum Essen anbieten würden. Glücklicherweise absolvierten Sebi und ich vorab noch einen Kochkurs. Dessen Thema lautete: „Die Linse – klein aber oho!“ Die ersten Gänge Indische Linsensuppe und Exotischer Linsensalat schmeckten super. Linsen-Börek war auch lecker. Ein bisschen kritisch wurde es beim Linsen-Eintopf, ausgerechnet Sebis und meinem Gang. Und Linsengemüse und Linsen-Mus haben uns schließlich den Rest gegeben. Nach dem acht-Gänge-Linsen-Menü konnten wir uns für die nächste zwei Monate erst mal kein Essen mit Linsen mehr vorstellen. Der Kochkurs hatte uns für ein Weihnachtsessen in unseren eigenen vier Wänden also nichts gebracht.
Als sich das Riesenfest bei uns dadurch langsam zerschlug, gaben sich unsere Eltern betont leger. Sebis Mutter rief Sebi an und erklärte, Sebi könnte gerne mit meiner Familie feiern, bei meiner Familie verhielt es sich genau umgekehrt; und als wir langsam das Gefühl bekamen, dass wir von den Festen ausgeladen wurden, die schon seit einigen Jahren Gebrauchsspuren aufwiesen, fanden wir auf einmal nichts schöner als diese Gebrauchsspuren. Ich würde das Glöckchenklingeln und den schiefen Gesang meiner Schwestern vermissen und Sebi den Geruch von Fleischtopf und das Call-of-Duty-Spielen mit seinem Bruder. „Zusammenfeiern können wir doch immer noch, wenn wir eigene Kinder haben“, beschlossen wir und fuhren zu unseren Eltern, jeder zu seinen.