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Die Nacht zwischen zwei Jahren

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NADINE

Silvester: Früher begann die Planung Monate im Voraus, denn es war wichtig, auf der coolsten Party der Stufe eingeladen zu sein, um fünf vor zwölf neben dem richtigen Jungen zu stehen und um Punkt zwölf endlich den ersten Kuss zu bekommen. Heute hat man sie alle hinter sich – die Filmriss-Silvester auf der Skihütte in Südtirol, die Raclette-Essen mit Freunden, WG-Partys, Pyjama-Partys, überfüllte Großraumdisco und Single-Silvester mit Spieleabend und Käse-Crackern bei den Eltern. Eine Freundin erzählte mir neulich von der Variante, Silvester allein in der Badewanne zu feiern, Raketen vom Balkon zu starten und bloß nicht das Haus zu verlassen. Das ist die einzige, die mir noch fehlt und die hört sich ziemlich verlockend an.  

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Ich weiß nicht, was ich anstrengender finde – die Silvesterparty an sich oder die Frage „Und, was machst du dieses Jahr an Silvester?“ Ich antworte darauf meistens, dass ich noch nicht weiß, wo ich feiere, mir aber am meisten wünsche, eingeschneit zu sein, so wie an Silvester vor fünf Jahren. Damals waren Sebi und ich zwar noch beliebt und hatten zahlreiche Einladungen, saßen aber im 1000-Seelen-Dorf seiner Eltern in der Eifel fest und kamen nicht mehr nach Köln zurück. Die einzige Zufahrtsstraße war gesperrt. Um acht verabschiedete sich der Rest der Familie zu eigenen Partys im Ort, nahm leider auch den Nudelsalat mit, auf den wir spekuliert hatten, und Sebi und ich stellten fest, dass nicht nur wir den Berg nicht hinunter-, sondern der Pizzaservice den Berg auch nicht hinaufkam.  

Für unser Silvester-Essen fanden wir schließlich in der Tiefkühltruhe Pommes, die wir mit Alaska Seelachsfilet im Backofen warm machten, und haben den Rest des Abends Warhammer-Figuren angemalt. Bis kurz vor zwölf noch zwei Freunde zu uns stießen, die das sinkende Schiff auch nicht mehr rechtzeitig verlassen hatten. Wäre der eine von ihnen nicht noch schlimm gestürzt, als wir draußen Feuerwerk gucken wollten, und hätte sich nicht das halbe Bein aufgerissen, sodass wir das neue Jahr auf der Suche nach Mullbinden nicht verpasst hätten – dieses Silvester hätte wirklich Potenzial gehabt und wäre sicher das schönste unseres Lebens geworden. All die Jahre waren meine hohen Erwartungen immer enttäuscht worden – in diesem Jahr hatte ich ab dem Moment, an dem wir vom Rest der Welt abgeschnitten waren, keine Erwartungen mehr gehabt und plötzlich war alles ganz schön. Und genau das legt Sebi mir ja immer ans Herz!  

Ich weiß, dass es für ihn keinen Sinn ergibt, sich um zwölf Uhr zu küssen, statt um elf. Von Einkaufslisten fürs Raclette wird ihm schwindelig. Wenn ich ihm dann an Silvester noch meine Vorsätze für 2014 nenne („Bis Mai will ich mit dem Drittjahresfilm fertig sein, dann läuft im Juli unser Mietvertrag aus, dann will ich bis August in Berlin eine tolle Wohnung für uns finden, damit wir im Herbst für den Diplomfilm bereit sind, damit ich endlich in eine Agentur für Drehbuchautoren, Geld verdienen und eine Familie gründen kann“), sagt er, dass ich spinne. Weil ich nicht im Moment lebe, sondern nur im Morgen, in einem Leben im Vorspullauf. Und irgendwie hat er damit ja Recht.  

Also habe ich dieses Jahr für Silvester nichts geplant. Es gab kein Essen, keine Gäste und auch die Einladungen blieben aus. Sebi wunderte sich schon, denn ich wirkte bis zur letzten Minute ganz entspannt. Ich hatte weder einen Skiausflug, noch einen Spieleabend, noch ein Feuerwerk organisiert. Ich hatte nicht mal das Badewasser eingelassen und sprach von meinem neuen Vorsatz für 2014 à la „Carpe Diem“. Sebi war fast enttäuscht, er glaubte bis zum Schluss an eine Überraschungsparty. Ich war ziemlich stolz.  

Nur in meinem tiefsten Inneren ahnte ich, dass ich eine Betrügerin war. Es stimmte nämlich gar nicht, dass ich ein Silvester ohne Erwartungen feierte. Ich hoffte ja nur darauf, dass durch meine betonte Erwartungslosigkeit noch einmal etwas ganz Besonderes passieren würde – vielleicht das schönste Silvester unseres Lebens! Ich glaube nicht, dass man unter diesen Umständen von einer fehlenden Erwartungshaltung sprechen darf.  

„Komm, wir gehen hoch zu Lukas und Maike, da gibt’s bestimmt was zu Essen“, sagte Sebi und ich nahm seine Hand und zusammen gingen wir in unser neues Jahr. Ein frohes 2014 für alle!


SEBASTIAN

Silvester. Zeit der Rückschau, Zeit des Blicks nach Vorne.

Bäh! Ich war noch nie ein großer Fan von Silvester. Mich störte schon immer die Vorstellung, dass es diesen einen Tag im Jahr gibt, an dem man ein Resümee über die vergangenen 364 Tage ziehen soll. Über die Geschichten von verpatzten großen Sylvester-Vorhaben lachte ich stets am lautesten und weigerte mich Jahr um Jahr beharrlich, allzu früh auf eine Silvestereinladung einzugehen (meist mit dem Resultat, zu keiner Party zu gehen).

Mich nervte, dass es den Leuten in Bezug auf die „guten Vorsätze“  meist nicht gelang, zwischen Vorsätzen und Wünschen zu unterscheiden. Es machte für mich eben einen großen Unterschied, ob man sich vornahm, mit dem Rauchen aufzuhören (man kann das relativ gut selbst entscheiden), oder ob man zum Beispiel im nächsten Jahr nicht mehr so alleine sein oder beruflich erfolgreicher sein will (das entscheiden nämlich meist die anderen). Ich monierte gern, dass man in der Regel für die tatsächlichen Vorsätze zu wenig Kraft und für die Wünsche zu wenig Glück hatte (sonst wäre einem das eine oder das andere ja sicher schon vorher gelungen) und ergänzte, dass man daher am Ende des Jahres vor dem eigenen inneren Gerichtshof als Verlierer dastünde – was niemand wollen könne. Und überhaupt, ich war eh immer Nichtraucher!

Dementsprechend machte ich auch aus dem Silvesterfest keine große Sache, ein Abend, wie jeder andere, mit umfallenden Bierflaschen, in die Menge fliegenden Raketen und überlasteten Handynetzen. Wenn mir daran was läge, könnte ich auch in ein FC-Derby gegen Gladbach gehen, dachte ich mir dann mal insgeheim, mal lautstarkt, während mit pappenen Sektbechern angestoßen wurde. Und so brandmarkte ich Silvester schließlich als einen Akt der Selbstvernichtung und erreichte mit meiner flammenden Rede zu diesem Thema, dass die eifrigen Vorsätze-Macher den Vorsatz „Sebi aus dem Weg gehen“ auf ihrer Vorsatzliste ergänzten.

Ja, man könnte meinen ehemaligen Kampf gegen Silvester als verbissen bezeichnen. Zumindest tat Nadine das gelegentlich. Sie war da ganz anders. Nadine hat sich schon immer sehr genaue Vorstellungen davon gemacht, wann sie welchen Schritt in ihrem Leben wie erledigt haben will. Dass man dazu natürlich eine regelmäßige Qualitätskontrolle brauchte, war klar. Ein Termin zum Ende des Jahres bot sich da an. Inventur macht man ja auch nicht im Sommer!  

Zwar veränderten sich die Inhalte von Nadines Vorstellungen im Laufe der Zeit (weg von engelsgleichen Zwillingen, die mit den grasenden Pferden hinter dem Haus um die Wette tollen), aber ihr Modus, sich Dinge vorzunehmen und anschließend kritisch zu prüfen (meistens mit vernichtendem Urteil), blieb im Wesentlichen gleich. Ich sagte dann gerne kluge Sätze wie „Du verpasst die Dinge, die dir gerade passieren, weil du ständig darüber nachdenkst, was dir morgen passieren soll und was dir gestern noch nicht passiert ist“, während sie mich als „in den Tag träumenden Spinner, der nicht merkt, wie das Leben an ihm vorbeizieht“ bezeichnete. Man kann sich vorstellen, dass diese beiden Weltansichten am Silvesterabend zu Spannungen führten, die oft mehr Zuschauer anlockten, als das zeitgleich abgehaltene Feuerwerk.

Meine Biologielehrerin Frau Fuchs hat mal erklärt, dass die wichtigste Errungenschaft der Evolution die Einteilung von vorevolutionärem Brei in Untergruppen war; erst durch kleine „Räume“ in der Zelle konnte aus dem Matsch an Molekülen eine geordnete Abfolge von Prozessen, eine Sequenz werden. Und manchmal scheint es mir so, als würden wir Menschen bis heute in allem, was wir so machen, nach Sequenzen streben. Zumindest, wenn es um unsere begrenzte Lebenszeit geht, sequenzieren wir wie die Weltmeister. Gefangene aus Isolationshaft berichten, dass der schlimmste Moment der ist, wenn der Tagesrhythmus verlorengeht. In der Raumstation ISS arbeiten die Astronauten in festen Tag-Nachtzyklen, obwohl es dort oben weder Tag noch Nacht gibt. Jeder Student kennt das Durcheinander im Kopf, wenn man aus Versehen erst abends aufwacht und letztlich versucht unser ganzes Kalendersystem nichts anderes, als aus dem Brei an vorbeilaufender Zeit kleinere Sequenzen zu machen.

Meine These: Die kleineren Einheiten lassen sich einfach viel besser als Erinnerung behalten. Und da muss ich Nadine dann manchmal schon beneiden; wo es mir oft schwer fällt in der Erinnerung überhaupt das richtige Jahr zu benennen, da weiß Nadine in aller Regel auch noch alles über die Begleitumstände, den aktuellen Zahnstand und ihre jeweils aktuellen Ziele sowie den Status des Erreichens derselben. Meine große Angst dabei: Der in den Tag lebende Spinner merkt irgendwann überrascht, dass er sich an das Leben eigentlich gar nicht richtig erinnern kann, da er in seinem Hirn keine gut sortierten und mit Jahreszahlen versehenen Fotoalben vorfindet, sondern Erinnerungsbrei.

Es kann natürlich auch daran liegen, dass Nadine einfach ein besseres Gedächtnis hat, aber um auf Nummer sicher zu gehen und weil meine Angst vor dem Brei größer ist als mein Wille Recht zu haben, werde ich mir dieses Jahr auch Vorsätze fürs neue Jahr nehmen: Ich höre mit dem Rauchen auf, will weniger alleine sein und erfolgreicher im Beruf. So, das wäre erledigt. Ich berichte dann nächstes Jahr, wie es gelaufen ist.   

sebastian-hilger


Text: nadine-gottmann - Illustration: Yinfinity

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