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Freunde- Typologie. Heute: Der Reisefreund
Ich hatte das Fliegen schon immer gehasst. Als ich durchs Gate ging und mich das Flugzeug blöd angrinste, wäre ich fast nicht eingestiegen. Auf dem Anschlussflug hatte sich meine Flugpanik etwas gelegt, und ich war sogar in der Lage, halbwegs vernünftige Sätze mit meinem Sitznachbarn auszutauschen. Nick war Mitte 20, kam aus London und sprach Englisch wie auf den Lernkassetten früher in der Schule. Er war Modedesigner und flog wie jedes Jahr im Auftrag seiner Firma nach Tokio. Wir verstanden uns recht gut, und zwei Nissin Cup Noodles später, spielte mir mein Verstand einen Trick: Ich glaubte ihn schon irgendwo einmal getroffen zu haben, obwohl das völlig ausgeschlossen war. Als ich dies anmerkte, klang das fast wie ein jämmerlicher Anmachspruch. Doch er war höflich genug, darauf einzugehen. In 15000 Metern über Sibirien, deklinierten wir Orte durch, die wir beide schon bereist hatten.
Natürlich waren wir uns noch nie begegnet. Vielleicht lag es ja an meiner Müdigkeit. Wissenschaftler behaupten, Déjà-Vu-Erlebnisse werden unter anderem durch Erschöpfung ausgelöst.
Nebenbei hatte ich schon eine ganze Weile das kleine Zeichentrickflugzeug auf den Sitzmonitoren verflucht, weil es meiner Meinung nach viel zu langsam über die Weltkarte kroch. Als es dann schließlich sein Reiseziel erreichte, dachte ich nicht darüber nach, dass sich Nicks und meine Wege nach der Gepäckausgabe wohl wieder trennen würden. Eher aus Höflichkeit sagte ich, man laufe sich ja in Tokio vielleicht noch mal über den Weg.
Tatsächlich taten wir dies. Warum? Weil man in der Fremde zu Komplizen wird. Man ist gemeinsam einsam und weit weg von zu Hause. Daheim würde ich nie auf die Idee kommen, etwas mit Leuten zu unternehmen, die ich gerade mal ein paar Stunden kenne. Die Etikette des Freundewerdens setzt normalerweise ein gewisses Maß an Distanz voraus. Auf Reise wird dieses Protokoll aufgehoben, denn dazu ist schlicht die Zeit zu knapp.
Wie sich herausstellte, wäre ich ohne Nick in der japanischen Metropole sowieso aufgeschmissen gewesen. Mir blieb gar nichts anderes übrig, als mich nach der Ankunft an ihn ran zu hängen. Wer einmal Lost in Translation gesehen hat, der lasse sich sagen, der Film ist akkurat. Nick kannte sich ganz gut aus und konnte jobbedingt sogar ein paar Brocken Japanisch. In den nächsten Tagen trafen wir uns, sobald es unsere Terminkalender erlaubten. Wir zogen durch die bunten Häuserschluchten Shibuyas, kauften Platten in winzigen 2nd-Hand Shops und führten einen Contest, wer sich beim Essen die obskursten Sachen bestellen würde. Nebenbei lernte ich ein paar von seinen japanischen Arbeitskollegen kennen. Auf sie mussten wir tatsächlich den Eindruck von alten Freunden gemacht haben. Nicks Umgang mit mir war ungezwungener als mit den Einheimischen, obwohl wir uns erst seit kurzem kannten. Vielleicht mag das der Tatsache geschuldet sein, dass wir vom gleichen Kontinent kamen. In der japanischen Umgebung waren wir eben die Europäer. Ich glaube, unbewusst schweißte uns das zusammen.
Ich verließ die Stadt ein paar Tage früher als Nick. Wir tauschten vorher E-Mail Adressen aus, unsere Telefonnummern hatten wir ja bereits. Ich kündigte an, ihn noch im selben Jahr in London zu besuchen, und Nick betrachtete es als gute Gelegenheit, mal zum Oktoberfest zu kommen. Jetzt, wo er doch jemanden aus München kannte.
Es wurde aber nie etwas daraus und ich kann nicht behaupten, dass ich das als sonderlich schlimm empfinde. Auf der Reise hat die Freundschaft Sinn gemacht. In der Fremde war es für uns beide ein absoluter Glücksfall, jemanden an der Seite zu haben, mit dem man auf der gleichen Wellenlänge ist. Zu Hause hingegen, ist man ja sowieso in ein soziales Netzwerk eingebunden. Manchmal ist es schon schwierig genug, den Kontakt zu alten Freunden aufrecht zu erhalten. Nick ist natürlich jederzeit willkommen. Ich glaube, wir hätten auch hier eine lustige Zeit. Tokio lässt sich dadurch trotzdem nicht wiederholen. Denn egal, wer nun wen besucht, letztlich ist einer der Gastgeber, und dieser fühlt sich gezwungen, seine Stadt, seine Freunde, und sich selbst von der Schokoladenseite zu zeigen. Die Lockerheit ist dahin. Es gibt nur einen Ort, wo sich dieser Zustand wieder herstellen lässt: die Reise.
In den letzten Jahren habe ich einige dieser Instant-Freundschaften geschlossen. Ich denke hin und wieder an diese Menschen. Die wenigsten liefen mir noch einmal über den Weg. Zu Hause hat sich mittlerweile ein ganzes Bündel an Telefonnummern und E-Mail-Adressen angesammelt. Neulich habe ich Nick gegoogelt. Er lebt immer noch in London und betreibt seine eigene Schalfirma. In meinem Handy ist immer noch seine Nummer eingespeichert. Vielleicht rufe ich ihn ja doch mal an.
Text: michael-mettke - Illustration: Judith Urban