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Freunde-Typologie. Heute: Der Freund, der nicht mehr da ist

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Ich bin so reingerutscht in diese Freundschaft. Auf einmal ist Franzi aus meiner alten Grundschulklasse da und schlägt vor, dass wir Maria doch was zum Geburtstag schenken könnten. Wir einigen uns auf einen kleinen Fresskorb mit Milchschnitten und Paprikasticks. Aus Franzis Garten klauen wir noch lila Blüten als Verzierung und bringen Maria ihr Geschenk vorbei. Wir haben uns vorher schon ab und zu getroffen, aber seit diesem Tag sind wir drei unzertrennlich. Wir sind zu dritt, ohne dass eine das fünfte Rad am Wagen ist. Maria ist die Ältere, die uns zwei 13-jährigen Teenies eine neue Welt zeigt.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Maria hat immer Zeit für uns. Es ist sicher, dass sie das Schuljahr wiederholen muss, warum also lernen? Jeden Tag nach den Hausaufgaben gehen Franzi und ich zu ihr, auf den Bauernhof ihrer Eltern. Wir müssen nicht klingeln, sondern drücken einfach die Klinke nach unten – die Tür steht immer offen. Im Hausflur rufen wir nach ihr. Sie antwortet mit dem immer lauter werdenden Geklapper ihrer Sandalen auf den Steinfließen. Ein leichter Schlag gegen die Schwingtüre, die sich schwungvoll öffnet – und Maria steht vor uns, in ihrer hellen Jeans und dem grünen T-Shirt, das sie praktisch immer trägt. „Hey Leut!“, begrüßt sie uns. Im Laufe des Nachmittags kommen meistens noch ein paar Leute dazu: Maria hat vier Geschwister und einen Schwung Cousins und Cousinen, die gegenüber wohnen. Nachmittags sind Marias Eltern draußen im Stall und das Haus gehört uns. Wir sitzen in der Küche, hören Radio und unterhalten uns. Oder wir sind „im Fernseh“– im Wohnzimmer – und schauen Marias Lieblingsserien „Unter Uns“ und „Dawson’s Creek“. Meistens sitzen dabei ein paar von uns auf dem Boden, weil das abgewetzte Ledersofa nicht groß genug für alle ist. Maria sitzt mit dem „Fernsehdrucker“– der Fernbedienung – meistens auf dem „ersten Platz“ des Sofas, von dem man die beste Sicht hat. Mit Maria fangen Franzi und ich langsam an, abends wegzugehen. Freitags Eisessen im Nachbardorf oder in die kleine Pizzeria, wo uns der Wirt nach dem Essen immer Orangensaft mit einem Schuss Ramazotti spendiert. Samstagabends nimmt Maria uns mit ins Jugendtreff unseres Dorfs, einem Kellerraum mit dem unvermeidlichen Kickertisch und olivgrünen Tarnnetzen an der Betondecke. Franzi und ich trinken Spezi und müssen um zehn Uhr zuhause sein. Bald finden wir eine Möglichkeit, diese zehn-Uhr-Sperrstunde zu umgehen: Wir übernachten bei Maria. Manchmal gehen wir in die „Hütte“, den Partyraum eines Bekannten. Der direkte Weg von Maria zur Hütte führt bei mir zuhause vorbei. Sicherheitshalber machen wir deswegen immer einen kleinen Umweg und nehmen die Parallelstraße. Auf einer dieser heimlichen Hütten-Partys endet die Spezi-Phase: Maria schenkt Franzi und mir Jack-Cola ein, den wir entgegen ihrer Erwartung anstandslos runterkippen. Später, bei Maria daheim, legen wir uns zu dritt in ihr breites Bett. Nachts wache ich manchmal auf, weil Maria hustet. Sie sitzt an der Wand gelehnt im dunklen Zimmer und schnappt nach Luft. Nachdem sie ein paar Mal an ihrem Asthmaspray gezogen hat, atmet sie wieder ruhiger und wir schlafen weiter. Wir haben das nie richtig ernst genommen mit dem Asthma. Uns nie gefragt, ob es so gut ist, dass sie raucht. Ab und zu hat sie ihren Inhalator benutzen müssen, aber danach war alles wieder in Ordnung. Darum haben wir uns auch ganz gelassen von ihr verabschiedet, als sie beim Schützenfest an einem Sonntag Abend im August keuchend aus dem Zelt kommt und sagt, dass sie heimgeht – sie hält die stickige, verrauchte Luft nicht mehr aus und braucht ihr Asthmaspray. Kein Wunder, denken wir uns, sie hat ja ein anstrengendes Wochenende hinter sich: Als Festdame war sie seit Freitagnachmittag auf der Zeltbühne gestanden, im blau-weißen Kleid und einen Blumenstrauß schwenkend. Manchmal barfuß, weil ihre neuen Schuhe so drücken. Jetzt fährt sie ein Bekannter nach Hause. „Bis morgen!“, ruft sie uns zu und steigt ins Auto. Kurz darauf radeln auch Franzi und ich heim. Sie übernachtet bei mir. Wir reden noch lange über das Fest, über die Sommerferien, die gerade angefangen haben, über unseren gemeinsamen Urlaub. In ein paar Tagen geht’s los nach Italien, wir drei und Franzis Eltern. Am nächsten Morgen weckt uns meine Mutter. „Es ist was passiert“, sagt sie uns. Die Angst steigt in mir auf. Ist irgendetwas mit meiner Familie? „Du kannst später wiederkommen, Franzi.“ Also nichts mit der Familie, sonst hätte sie diesen Satz nicht nachgeschoben. Franzi geht heim und meine Mutter sagt mir, dass Maria gestorben ist. In der Nacht, an einem Asthmaanfall. Danach wird meine Erinnerung löchrig. Ich weiß nur noch, dass ich so geweint habe, dass ich Nasenbluten bekommen habe. Ich weiß noch, dass wir uns zusammengerottet haben, Franzi und ich und ein paar andere Freundinnen – nur nicht alleine sein. Ich weiß noch, dass ich abends stundenlang im Leichenhaus gestanden habe, im Kerzenschein vor dem Sarg hinter der Glasscheibe. Ich weiß noch, dass mich Menschen umarmt und getröstet haben, die selbst Tränen in den Augen hatten. Über zehn Jahre ist ihr Tod jetzt her. Mit Franzi bin ich immer noch befreundet, auch mit Marias Geschwistern. Und mit Maria selbst irgendwie auch. Ich denke vielleicht nicht mehr jeden Tag an sie, aber sie ist trotzdem immer da. Ich besuche sie öfters auf dem Friedhof. Auf dem Grabstein klebt ein Portraitfoto neben den eingemeißelten Goldbuchstaben. Es ist nur ein paar Tage vor ihrem Tod aufgenommen worden. Sie trägt ihr Festdamen-Kleid und war gerade erst beim Friseur. Ich schaue ihrem Foto in die Augen und erzähle ihr, wie es mir geht und was so passiert ist – es fühlt sich ein bisschen an wie Tagebuch schreiben. Ich lehne mich dabei immer an den Stein des Grabes hinter mir. Als ich kurz nach ihrem Tod Stunden an ihrem Grab verbracht habe, war der Stein immer von der Augustsonne aufgewärmt. Wenn ich heute die Finger an den warmen Stein drücke, spüre ich manchmal wieder einen Hauch der Verzweiflung, die ich vor zehn Jahren gefühlt habe. Ich weiß immer noch keine Antwort auf die Frage „warum?“. Sie war doch erst 16.

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