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„Ich könnte so tun, als wäre es nur schlechtes Wetter“

Matthieu Bourgois

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Die Auswirkungen der Klimakrise bedrohen die Lebensgrundlage von Menschen weltweit. An manchen Orten sind die Folgen schon heute besonders zu spüren. In den Klimatagebüchern berichten Menschen davon, wie sich das Leben in ihren Regionen durch die Klimakrise verändert. 

In der 23. Folge berichtet Matthieu Bourgois, 28, warum er sich gegen radikalere Protestformen entschieden hat und daran glaubt, dass positive Beispiele die Menschen zum Umdenken bringen können.  

„Wir haben Glück in der Schweiz, wir sind nicht die am stärksten von der Klimakrise betroffene Region. Und die Schweiz ist ein reiches Land, Anpassung ist also möglich. Wenn man weiß, worauf man achten muss, sieht man die Klimafolgen natürlich trotzdem: Die Gletscher schmelzen, die Sommer sind wärmer, erst vor ein paar Wochen verwüsteten starke Überflutungen einige Kantone in der Südschweiz. Aber in meinem Alltag spüre ich die Folgen noch nicht zu stark, dafür bin ich dankbar. Ich könnte die Klimakrise wahrscheinlich komplett ignorieren und einfach normal weitermachen, wie es viele andere tun. Ich könnte so tun, als hätten wir nur schlechtes Wetter. Aber als Wissenschaftler, der umgeben ist von umweltbewussten Menschen, geht das nicht. Ich bin mir des Problems sehr bewusst und ich versuche, etwas zu ändern. 

Die Klimakrise betrifft mich in meinem Alltag also eher in meinen Versuchen, einen gesellschaftlichen Wandel herbeizuführen. Das fängt bei mir an. Ich versuche, so nachhaltig wie möglich zu leben: Indem ich so gut wie möglich Müll vermeide, wenig Fleisch esse und vor allem mein Reiseverhalten umstelle. Denn ein großer Teil unseres CO2-Fußabdrucks entsteht durch Mobilität. Ich reise eigentlich fast nur mit öffentlichen Verkehrsmitteln, fliege seit sechs Jahren nicht und versuche, so wenig wie möglich Auto zu fahren. 

Insgesamt muss sich das System verändern, das ist klar. Aber irgendwo muss man anfangen – warum also nicht bei sich selbst? Wie könnte ich erwarten, dass die Anderen etwas verändern, wenn ich das selbst nicht tue? Wie könnte ich den Menschen sagen, dass sie nicht genug tun, während ich selbst in der Gegend umherfliege? Ich will natürlich niemandem verbieten, die Familie auf der anderen Seite der Welt zu besuchen, darum geht es nicht. Ich sage auch nicht, dass ich nie wieder fliegen werde – ich würde so viele Gegenden gerne bereisen, Südamerika zum Beispiel. Mir geht es darum, durch meine Art zu leben hoffentlich andere zu inspirieren, auch etwas zu verändern. Viele Menschen, auch in meinem näheren Umfeld, nutzen andere, lautere Protestformen. Einige haben sich auch schon auf die Straße geklebt. Ich verstehe das, wenn man alles andere versucht hat und einfach nichts eine Veränderung bringt. Aber an diesem Punkt bin ich noch nicht. Ich versuche es zumindest derzeit auf die sanftere Tour: Einen positiven Einfluss zu haben, ist so etwas wie mein Lebensmotto.

Wir wollen mit unserem klimaneutralen Bus viele zum Umdenken und Handeln bewegen

Und hier kommt unser Bus-Projekt ins Spiel. Ich habe in Lausanne studiert und war damals viel weniger umweltbewusst als jetzt. Dann freundete ich mich mit Student:innen an, die stärker in die Klimabewegung eingebunden waren und änderte viele meiner Verhaltensweisen. Uns vereinte vor allem die Liebe fürs Reisen. Damals machte ich bei der Formula Student mit. Bei diesem internationalen Konstruktionswettbewerb bauen Student:innen Fahrzeuge für nicht-professionelle Rennfahrer:innen. Ich habe damals am Prototyp für einen elektrischen Rennwagen mitgebaut. Mein Freund Curdin kam daraufhin mit der Idee um die Ecke, dass wir doch einen elektrischen Bus bauen könnten. Anfangs war das viel lockeres Gerede, noch nichts Konkretes.

Als wir dann mit dem Studium fertig waren, setzten wir uns ernsthaft zusammen, stellten einen Projekt-Plan und eine grobe Budgetierung auf und besprachen, wen wir im Team haben wollten. Letztendlich entstand ein Team von acht Freund:innen. Finanziert haben wir das Projekt mit Crowdfunding, Innovationsfonds und mithilfe von Sponsoren. Wir gründeten einen Verein, 2022 kauften wir einen alten Bus, ersetzten den Dieselmotor mit einem elektrischen und bauten ausfahrbare Solarpanels auf das Dach. Wir wollten den Bus so nachhaltig umbauen wie möglich.

Das hieß auch, so viele Dinge aus dem alten Bus wie möglich weiterzuverwenden, um ihnen ein zweites Leben zu geben. Batterien besorgten wir aus ausrangierten Unfallwägen. Der Innenausbau besteht ausschließlich aus natürlichen Produkten wie Holz, Wolle und Kork. Natürlich musste er ursprünglich einmal aus Rohstoffen gebaut werden und wir haben weitere Materialien für den Umbau verwendet. Aber jetzt, wo er gebaut ist, hat er keinerlei Impact. Alle paar Jahre muss man die Reifen und Bremsen wechseln – und das war’s. In idealen Bedingungen im Sommer kann die Batterie innerhalb von einem Tag über die Solarpanels vollgeladen werden. Das reicht dann für 250 km. Drei Personen können damit klimaneutral reisen und darin schlafen.

Der Bus ist ein Hobby, wir verdienen kein Geld damit. Für uns ist das Wichtigste, dass wir CO2-frei reisen. Und wir wollten den Bus seit Projektbeginn auch für Umweltkommunikation verwenden. Deswegen befinden wir uns gerade mit dem Bus auf einer siebenwöchigen Tour durch die Schweiz und stellen das Projekt an Schulen, in Gemeinden, in Unternehmen und bei Festivals vor. Wir haben alle Jobs und müssen uns deshalb bei der Tour abwechseln. Das ist mehr Arbeit als man denkt: Jeden Tag am Bus checken, dass alles läuft, auf Social Media etwas dazu posten, Emails schreiben, Interviews geben, den Bus bei Veranstaltungen präsentieren. Es ist super viel los. Aber wir lieben es.

Der Bus bekommt wirklich tolles Feedback: Die Schüler:innen und Lehrkräfte sind begeistert, ein kleines Mädchen wollte neulich direkt mit uns mitfahren. Passant:innen bleiben stehen, stellen Fragen. Manche sind direkt enthusiastisch, andere skeptischer – aber die meisten gehen mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Und irgendwie wird es gerade größer als gedacht: Unser Bus war schon im Schweizer Fernsehen und wir durften ihn im Forschungszentrum der Europäischen Kommission präsentieren. Nach der Tour werden wir erstmal durchatmen und schauen, wie es weitergeht. Ich schätze, wir haben bisher etwa 2000 Menschen mit dem Bus-Projekt persönlich erreicht. Das freut uns sehr und wir hoffen, damit viele zum Umdenken und Handeln zu bewegen.“ 

Mehr Informationen zur Klimakrise in der Schweiz:

Die Schweiz ist eines der mitteleuropäischen Länder, die einem zunehmenden Risiko durch extremeres Wetter mit mehr heißen Tagen, stärkeren Niederschlägen, trockeneren Sommern und schneearmen Wintern ausgesetzt sind. Schon heute ist der Temperatur-Mittelwert in der Schweiz um 2,8° Celsius über dem vorindustriellen Durchschnitt von 1871-1900. Das führt unter anderem dazu, dass die Gletscher in der Schweiz bisher 65 Prozent ihres Volumens verloren haben. Voraussichtlich wird es bis Ende dieses Jahrhunderts keine Gletscher mehr in der Schweiz geben – das könnte die Wasserversorgung in ganz Europa stark beeinflussen. Ein globaler Temperaturanstieg von 1,5° Celsius würde in der Schweiz laut Forschung zu einem lokalen Temperaturanstieg von 3° Celsius führen. 

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