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Der Soundtrack deiner Füße
Hays und Ryan Holladay haben den Vorspul-Knopf obsolet gemacht. Wem eine Melodie auf ihrem neuen Album nicht gefällt, der braucht nur ein Stück zu gehen, damit sich die Musik verändert.
Das Album der Brüder Holladay, die zusammen das Musikduo Bluebrain bilden, heißt „The National Mall“, und eigentlich kann man es nicht mal als Album bezeichnen. Denn es lässt sich nicht zu Hause auf der Stereoanlage hören, und auch nicht auf dem MP3-Player in der U-Bahn. Es funktioniert nur an einem Ort dieses Planeten: auf der National Mall in Washington, dieser weitläufigen Mischung aus Prachtstraße und Park zwischen Lincoln Memorial und dem Kapitol.
Man lädt sich die Musik als App auf das iPhone und drückt die Play-Taste. Die Musik verändert sich mit jedem Ortswechsel, den der Hörer macht, folgt ihm ohne Unterbrechung, und wenn er die Mall verlässt, verliert sich die Musik langsam in der Stille. Das Album ist ein Soundtrack des eigenen Spaziergangs, die eigenen Füße werden zum Crossfader und der Weg zur Partitur. Ryan und Hays haben die Mall in 264 Zonen aufgeteilt und jeder ihren eigenen Klang gegeben. „Es ist ein dynamisches Musikstück“, sagt Hays. „Es besteht aus Hunderten von einzelnen Audiostücken, die ineinander verwoben sind und mit den Bewegungen des Hörers interagieren.“
http://vimeo.com/24250620
Das alles dominierende Bauwerk der Mall ist das Washington Monument. Der 170 Meter hohe Marmorobelisk überragt alles andere. Nähert man sich ihm mit dem Bluebrain-Album in den Kopfhörern, steigert sich die Musik mit jedem Schritt. Zuerst ist nur leise Keyboard-Klangteppich zu hören, später kommen Percussion und andere Instrumente dazu, wenn man schließlich direkt am Obelisk steht und den kalten Marmor berührt, dreht die Musik völlig durch – als würde man eine riesige Antenne berühren und alle Sender, die sie empfängt, gleichzeitig hören.
„Am Obelisk ist uns, glaube ich, am besten gelungen, was wir vorhatten: die optischen Eindrücke der Architektur und der Umgebung klanglich zu interpretieren“, sagt Hays. Besonders schwer sei ihnen das am Denkmal für die Veteranen des Vietnamkriegs gefallen. Hier war es unmöglich, die Bedeutung des Bauwerks außer Acht zu lassen und die Musik nur nach der Ästhetik zu komponieren. „Das war eigentlich bei all diesen historischen Gebäuden hier die Frage: Inwieweit fließt die Geschichte der Orte und ihre Bedeutung in die Musik ein?“ An den meisten Orten ist es egal, ob der Hörer etwas über ihre Vergangenheit weiß. Aber manchmal gibt es Hinweise, die man nur mit solchem Wissen versteht. Wenn man die Stufen zum Lincoln Memorial hinaufgeht, mischen sich Glocken unter den Klangteppich aus Electro-Beats und Synthie-Sounds. Sie sind eine Anspielung auf die berühmte „I have a dream“-Rede, die Martin Luther King hier 1963 hielt und in der immer wieder der Satz „Let freedom ring“ auftaucht. „Die Glocken sind sicherlich die eindeutigste Anspielung auf ein historisches Ereignis“, sagt Hays. „Die Musik bekommt durch sie eine weitere Ebene, aber sie funktioniert auch, wenn man das Zitat nicht kennt.“
Ryan und Hays, 29 und 27 Jahre, machten schon als Kinder zusammen Musik. 2002 gründeten sie die Band „The Epochs“ und spielten sich durch die New Yorker Indierock-Szene. Nach dieser Zeit verloren sie den Gefallen an der normalen Konzertkonstellation mit der Band auf der Bühne und dem Publikum davor. Sie gingen zurück in ihre Heimat Washington D.C., gründeten Bluebrain und begannen, mit verschiedenen interaktiven Musik-Performances zu experimentieren. Bei einem Konzert ließen sie das Publikum über Handy-Apps im wahrsten Sinne des Wortes mitmischen. Beim „Cherry Blossom Boombox Walk“ sollten die Teilnehmer des Marsches Ghettoblaster mitbringen. Ryan und Hays verteilten Kassetten mit unterschiedlichen Musiksequenzen, die sich, als alle gleichzeitig auf Play drückten, zu einem Song zusammenfügen sollten. „Wir sind einfach beide ziemliche Enthusiasten, wenn es darum geht, neue Technologien mit Kreativität zu füllen.“
Gerade arbeiten Bluebrain an einem ortsbasierten Album für den Central Park. Es gebe unzählige Plätze, für die sie gerne Musik schreiben würden, sagt Hays. Auch Städte in Deutschland könnten sie sich vorstellen. „Für die ersten Alben haben wir aber Orte gesucht, die wir gut kennen und zu denen wir irgendeine persönliche Bindung haben.“
Und wo führt das ganze noch hin? Werden wir bald Apps haben, die uns automatisch die Musik für unsere Fahrradroute durch die Stadt erschaffen? Eine App, die unsere Stimmung erkennt und die Musik daran anpasst? Müssen wir angesichts der Möglichkeiten neuer Technologien unseren Begriff neu definieren, was ein Musikalbum alles sein kann?
„Ich glaube nicht, dass wir das müssen“, sagt Hays Holladay. „Aber wir können.“