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Was erleben Minderjährige auf der Flucht?

Auf dem Rettungsschiff „Ocean Viking“ gehört es zu Julias Jobs, die Geschichten der Geretteten aufzuzeichnen.
Foto: Fabian Mondl / SOS MEDITERRANEE

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Esther, 17 Jahre alt, ist aus Ghana geflohen, um einer Zwangsheirat zu entgehen und zur Schule gehen zu können. Abdo, 17, aus dem Sudan, verbrachte vier Tage auf einem defekten Schlauchboot, bevor er gerettet wurde. Und Yasmine, 16, von der Elfenbeinküste, berichtet von Gefangenschaft und Missbrauch, in zwölf kurzen, extrem schmerzhaften Sätzen. All diese Geschichten sind in dem Dossier „Schiffbrüchige Jugend“ nachzulesen, das die private Seenotrettungsorganisation „SOS Méditerranée“ Mitte Dezember veröffentlicht hat. Es sammelt die Erfahrungsberichte von zehn Jugendlichen, die ohne Begleitung aus ihren Heimatländern geflohen und von den Crews der Rettungsschiffe Aquarius und Ocean Viking aus Seenot gerettet worden sind. Ergänzt werden sie durch Statistiken, Studienergebnisse, Fotos, Karten, Augenzeugenberichte und Zeichnungen. „SOS Méditerranée“ möchte so auf die Situation der besonders schutzbedürftigen jungen Menschen auf der Flucht aufmerksam machen.

Julia Schaefermeyer, 29, ist seit September 2019 „Communication Officer“ der Ocean Viking. Eine ihrer Aufgaben ist es, die Geschichten von geretteten Menschen aufzuzeichnen (sie ist allerdings keine der Autor*innen des Dossiers „Schiffbrüchige Jugend“). Bisher war sie bei zwei Einsätzen auf dem zentralen Mittelmeer dabei und hat an Bord viele Gespräche mit jungen Geflüchteten geführt. Während des Skype-Interviews sitzt sie in einem Hotelzimmer in Marseille: Die Crew muss dort eine zehntägige Quarantäne absolvieren, um in der zweiten Januarwoche eine neue Mission auf dem Mittelmeer starten zu können. Erst am 21. Dezember war die Ocean Viking nach einer fünfmonatigen Blockade durch die italienischen Behörden wieder freigegeben worden.

jetzt: Rund ein Viertel der Menschen, die von 2016 bis 2019 von „SOS Méditerranée“ gerettet wurden, waren minderjährig, 80 Prozent davon waren alleine auf der Flucht. Welche Gründe hatten sie, ihre Heimatländer zu verlassen? 

Julia Schaefermeyer: Das ist natürlich extrem individuell, aber ich habe zum Beispiel öfter mit Jungs gesprochen, die sich auf den Weg gemacht haben, um die Familie zu unterstützen, weil etwa der Vater verstorben war oder sie das älteste von vielen Kindern waren. Viele wollen dem Wehrdienst entkommen, vor allem junge Menschen aus Eritrea, in anderen Ländern droht eine Rekrutierung durch Milizen oder Gangs. Junge Frauen sind häufig auf der Flucht vor Traditionen wie Zwangsheirat oder weiblicher Genitalbeschneidung.

War dir vor deinem ersten Einsatz bewusst, dass so viele junge Menschen auf der Flucht sind?

Nein. Ich bin nicht bei jeder Rettung auf den Schnellbooten, aber auch vom Mutterschiff aus sieht man, wenn viele Kinder auf einem Boot in Seenot sind, weil die Rettungswesten für Kleinkinder und Babys eine andere Farbe haben. Da habe ich schon öfter gedacht: „Oh nein, da sind viele ganz Kleine dabei!“ Bei den unbegleiteten Minderjährigen sieht man häufig erst, wie jung sie sind, wenn sie vor einem stehen. Es hat mich sehr überrascht, wie viele es sind. Und ich hätte auch nicht gedacht, dass ich auf so unterschiedliche Charaktere treffen würde.

Wie meinst du das?

Ein Junge von der Elfenbeinküste hat mir zum Beispiel erzählt, er habe eine Ausbildung zum Schweißer gemacht und ihm sei egal, wo er hinkommt und welche Sprache dort gesprochen wird – er wolle einfach nur als Schweißer arbeiten. Mir wurde dadurch noch einmal bewusst, dass in Europa oft die Vorstellung herrscht, dass geflüchtete Jungs alle Fußballer werden wollen. Manche wollen das tatsächlich, aber es gibt eben auch unzählige andere Geschichten.

Die meisten Europäer*innen gehen auch davon aus, dass die Menschen in Libyen freiwillig in die Boote steigen. In eurem Dossier wird aber mehrfach darauf hingewiesen, dass das bei vielen gar nicht der Fall ist. 

In Libyen kommt es sehr häufig zu Entführungen, die Menschen müssen dann zum Beispiel mehrere Wochen ohne Lohn auf dem Bau arbeiten, werden als unbezahlte Haushaltshilfen wie Sklaven gehalten, die das Haus nicht verlassen dürfen, oder sie werden willkürlich in Internierungslager gesteckt. Dort werden sie und ihre Familien in den Heimatländern häufig um „Lösegeld“ erpresst und teilweise direkt an die Schlepper weitergereicht. Viele haben mir auch berichtet, dass sie fliehen wollten, aber in dem Moment, in dem sie die seeuntauglichen Boote gesehen haben, sagten: „Da steige ich nicht ein!“ Doch die Option, umzudrehen, gibt es dann nicht mehr, die Schlepperbanden gehen extrem brutal vor. Viele Menschen geraten auch schon lange vor diesem Zeitpunkt in eine Gewaltspirale aus Erpressung und Verschleppung, aus der sie nicht mehr fliehen können. 

„Gerade am Anfang eines Fluchtweges ist für viele nicht klar, wem sie in die Hände fallen können“

Bevor sie Libyen erreichen?

Genau. Ich habe oft von Menschen gehört, die etwa in Nord-Mali von Milizen überwältigt wurden. Von da an konnten sie über keinen weiteren Schritt mehr selbst entscheiden und wurden sozusagen immer „weitergereicht“. Gerade am Anfang eines Fluchtweges ist für viele nicht klar, wem sie in die Hände fallen können.

Wie geht es für unbegleitete Minderjährige weiter, wenn ihr sie an Bord nehmt? 

Sie werden registriert und bekommen ein spezielles Armband, sodass sie direkt erkennbar sind. Das medizinische Team macht eine erste Untersuchung und kann dabei oft schon einschätzen, ob jemand besonders gefährdet ist und mehr Hilfe braucht. In der Crew sind außerdem alle in psychologischer Erster Hilfe geschult und wir versuchen, mit allen Menschen, gerade auch mit den jungen, in Kontakt zu kommen und ein Auge auf sie zu haben. 

julia schaefermeyer im text

„Ich habe an Bord so viele aufgeweckte, witzige Menschen getroffen und es schmerzt mich sehr zu wissen, wie viele Jahre ihnen geraubt wurden, weil sie festgehalten und ausgebeutet wurden“, sagt Julia Schaefermeyer.

Foto: Julia Schaefermeyer / SOS MEDITERRANEE

Wie werden die Menschen an Bord untergebracht?

Wir haben zwei Container an Deck, sogenannte „Shelters“, einer für Männer und unbegleitete Jungs und einer für Frauen, Kinder und unbegleitete Mädchen, von dem aus es auch separate Zugänge zum Frauen-Waschraum und zum Hebammenraum gibt. Wir haben versucht, ein System zu schaffen, in dem Frauen und Mädchen unter sich bleiben können, wenn sie das wollen. 

Die Flucht birgt für Frauen und Mädchen ein noch größeres Risiko als für Männer und Jungs, oder?

Das Thema sexuelle Gewalt ist sehr präsent. Natürlich kann sie absolut jeden treffen. Aber bei vielen Erpressungen auf der Flucht sind Vergewaltigungen und das, was man als „transactional sex“ (Sex gegen Geld oder andere Gegenleistungen, Anm. d. Red.) bezeichnet, Formen von Gewalt, die Frauen und Mädchen extrem häufig erleben.

Teil deines Jobs ist es, die Geschichten der Menschen an Bord festzuhalten. Fällt es ihnen schwer, über ihre Fluchterfahrungen zu sprechen?

Ich hatte damit gerechnet, dass nur wenige Menschen darüber sprechen wollen – und war dann überrascht, wie viele das Bedürfnis hatten, davon zu erzählen. Nach einer Nacht Schlaf und mit Essen im Bauch sind die Geschichten aus vielen fast schon herausgesprudelt. Der Großteil der Gespräche, die ich führe, wird allerdings nie den Weg in eine Publikation finden, weil ich immer nachfrage, ob jemand die eigene Geschichte mit der Öffentlichkeit teilen möchte oder nicht. Und natürlich gibt es keine Verpflichtung, zu erzählen. Bei Menschen, die nichts sagen wollen, würde ich niemals nachbohren. Bei einem meiner ersten Einsätze war zum Beispiel eine Minderjährige an Bord, die selbst ein kleines Baby hatte. Sie konnte absolut nicht darüber sprechen, was ihr passiert ist. 

Können die Menschen an Bord Kontakt zu ihren Familien aufnehmen?

Handys sind oft der einzige Besitz, den sie retten konnten, aber im Einsatzgebiet sind sie nutzlos, weil es in diesem Teil des Mittelmeeres keinen Empfang gibt. Diese Situation ist total belastend. Viele Jugendliche haben zu mir gesagt: „Meine Eltern wissen, dass ich versuchen wollte, das Mittelmeer zu überqueren, und sie denken sicher, dass ich tot bin.“ Wir versuchen immer dafür zu sorgen, dass alle ihre Handys laden können, bevor wir anlanden, damit sie dann so schnell es geht ihre Familien benachrichtigen können. Im Oktober 2019 mussten wir elf Tage auf die Einfahrt in einen Hafen warten – und die Tatsache, dass dabei Jugendliche an Bord waren, deren Eltern nicht wussten, was mit ihnen passiert ist, war eine echte Tortur. 

„Für Menschen, die die Flucht über das zentrale Mittelmeer versuchen müssen, ist 2020 alles noch schlimmer geworden“

Gehen jüngere Menschen mit der Flucht und der Situation an Bord anders um als ältere?

Alle Geretteten haben Hoffnungen für ihr weiteres Leben, aber ältere Menschen sagen öfter: „Ich will in Sicherheit leben und meine Familie unterstützen, das ist alles, was zählt.“ Von Jugendlichen habe ich hingegen die eindrucksvollsten Geschichten über Pläne und Träume gehört.

Zum Beispiel?

Ich erinnere mich an einen jungen Mann, der unbedingt nach Finnland gehen und dort Jura studieren wollte. Ich habe gesagt: „Warum denn das? Die Sprache dort ist doch so was von schwer!“ Und er hat gesagt: „Finnland ist weit weg und ich glaube, da habe ich einfach die meiste Ruhe, mich meinem Studium zu widmen.“ Ich habe an Bord so viele aufgeweckte, witzige Menschen getroffen und es schmerzt mich sehr zu wissen, wie viele Jahre ihnen geraubt wurden, weil sie festgehalten und ausgebeutet wurden und sich nicht entfalten konnten. Und wenn sie an Land gehen, ist das ja noch nicht vorbei. Sie sind dann nicht einen Tag später in der Schulbank, sondern haben noch einen weiten Weg vor sich.

Erfährst du manchmal, wie es für sie weitergeht?

Mit einigen versuche ich, in Kontakt zu bleiben. Dazu gehört eine junge Frau aus Kamerun. Sie konnte im Herbst 2019 in Italien an Land gehen, nachdem sich mehrere europäische Länder bereit erklärt hatten, die Menschen an Bord der Ocean Viking aufzunehmen. Sie sollte von dort nach Deutschland kommen, aber wegen der Corona-Pandemie hat sich alles verzögert. Sie war fast ein ganzes Jahr lang in einem Auffanglager im italienischen Bari, bevor sie im Spätsommer 2020 ausreisen konnte. Erst seitdem kann ihr Asylantrag bearbeitet werden, sie steht also immer noch ganz am Anfang.

Die Pandemie hat eure Arbeit im vergangenen Jahr stark beeinflusst. Was ist deine Bilanz für 2020?

Ich hätte nicht gedacht, dass das möglich wäre – aber für Menschen, die die Flucht über das zentrale Mittelmeer versuchen müssen, ist 2020 alles noch schlimmer geworden. Zu Beginn der Pandemie wurden aus Gründen des Infektionsschutzes viele Häfen geschlossen. Das hat sich im Sommer langsam wieder geändert, aber darüber hinaus wurden viele private Rettungsschiffe festgesetzt. Auch die Ocean Viking war fünf Monate lang nicht im Einsatz und zu keinem Zeitpunkt wurden von staatlicher Seite Alternativen bereitgestellt, um Menschen in Seenot zu retten. Die Wetterlage auf dem Mittelmeer war zeitweise extrem gefährlich, aber es war niemand vor Ort, der die Todesfälle bezeugen konnte. Gleichzeitig hat die libysche Küstenwache in diesem Jahr mehr als 11 000 Menschen auf der Flucht zurück nach Libyen gebracht, was nicht mit internationalem Seerecht vereinbar ist: Menschen in Seenot müssen an einen sicheren Ort gebracht werden und das ist Libyen definitiv nicht.

Was wünschst du dir für das neue Jahr?

Es muss sich unbedingt etwas tun. Es gibt immer noch keinen sicheren Mechanismus zur Anlandung von Geretteten, es gibt immer noch zu viele festgesetzte Schiffe. Und vor allem gibt es immer noch keine staatlichen Rettungskapazitäten. Auch die deutsche EU-Ratspräsidentschaft hat in diesem Bereich keine Ergebnisse gebracht. Die Leidtragenden sind die Menschen in den libyschen Lagern, wo zu allem Elend und aller Grausamkeit nun auch noch eine Pandemie gekommen ist, und die Menschen, die versuchen, von dort zu fliehen.

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