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Wie rechts ist Frankreichs Jugend tatsächlich?

In Paris gehen am vergangenen Wahlsonntag zehntausende Aktivist*innen für Toleranz und Vielfalt auf die Straße.
Foto: Léonardo Kahn

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Im Pariser Banlieue feiert der Rassemblement National sein Wahlergebnis. Der Schampus ist gekühlt, der Roquefort ausgepackt, die Journalist*innen stehen bereit. Nur die gute Laune, die fehlt an diesem Wahlabend am 20. Juni 2021.

Denn mit fast 20 Prozent sammelt die rechtsextremistische Partei zwar die zweitmeisten Stimmen in der ersten Wahlrunde der französischen Regionalwahlen, doch ihr Ergebnis liegt weit unter dem der vergangenen Wahl von 2015. Der 25-jährige Spitzenkandidat Jordan Bardella versteckt seine Enttäuschung nicht: „Zwei Drittel unserer Wähler sind heute nicht wählen gegangen.“ Die Wahlbegeisterung in Frankreich hat sich an diesem Wochenende in Grenzen gehalten. Die Beteiligung bei der Regionalwahl hat ein historisches Tief erreicht: Bloß jede*r Dritte ging wählen, bei den 18- bis 24-Jährigen sogar nur jede*r Achte. „Wir konzentrieren uns für die zweite Wahlrunde nächsten Sonntag auf die Region Provence-Alpes-Côtes-d’Azur“, sagt Bardella – das ist die einzige Region, in der der Rassemblement National stärkste Kraft wurde. 

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Spitzenkandidat Jordan Bardella, 25, von der rechtsextremen Partei Rassemblement National versteckt seine Enttäuschung nicht.

Foto: Léonardo Kahn

Bardellas Stellungnahme an diesem Abend dauert nur einige Minuten und endet mit tobendem Applaus. Viele seiner Anhänger*innen sind so alt wie er, wenn nicht sogar jünger. Sie nennen sich Les Jeunes avec Bardella, Jugend mit Bardella. Obwohl sie sich laut eigenen Angaben gegen die „Verteufelung“ ihrer rechtsextremen Partei einsetzen wollen, fällt ihnen der Kontakt zu Journalist*innen schwer. Gerade sei ein ganz schlechter Zeitpunkt, antworten einige, an einem Glas Sekt schlürfend, als man sie anspricht. Nach langem Zögern finden sich zwei Freiwillige: Nicolas und Natacha. Beide sind unter 30 und seit fast zehn Jahren im Rassemblement National aktiv.

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Viele der Anhänger*innen von Jordan Bardella sind so alt wie er, wenn nicht sogar jünger. Sie nennen sich Les Jeunes avec Bardella, Jugend mit Bardella.

Foto: Léonardo Kahn

Der Gedanke, dem „alten“ Frankreich etwas zu schulden, vereint die junge rechte Szene

„Dieses Land hat für uns so viel getan“, schwärmt der 27-jährige Nicolas. Jetzt sei es an der Zeit, Frankreich etwas davon zurückzugeben. Der Gedanke, dem „alten“ Frankreich etwas zu schulden, vereint die junge rechte Szene. Johanna von Orleans, Napoleon, Charles de Gaulle: Sie alle hätten für Frankreich ihr Leben riskiert. Und der Dank dafür sei eine 68er-Generation, die die Wirtschaft, die Gesellschaft und sogar die traditionelle Landschaft mit ihren Windrädern zerstört? „Deswegen müssen wir jetzt handeln!“, so Nicolas. Der Diskurs der jungen Rechten ähnelt, was den Wortlaut und die Dringlichkeit betrifft, dem von deutschen Umweltaktivist*innen. Mit gegensätzlichen Ideen.

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Nicolas ist seit fast zehn Jahren in der rechtsextremen Partei Rassemblement National aktiv.

Foto: Léonardo Kahn

Fast zwei Drittel der Französ*innen findet, dass es in ihrem Land zu viele Immigrant*innen gibt. Überdies sehen Nicolas und Natacha auch eine vermeintliche Islamisierung als Bedrohung. Die islamistischen Attentate in Paris im Jahr 2015 waren für beide eine Bestätigung ihres politischen Aktivismus. Als dann 2017 Emmanuel Macron zum Präsidenten gewählt wurde und nicht seine rechtsnationalistische Konkurrentin Marine Le Pen vom Rassemblement National, fing Nicolas an, sich in seinem Wahlkreis zu engagieren. Damals lag Le Pen in der ersten Wahlrunde bei der jüngsten Wähler*innengruppe auf Platz Zwei, drei Prozent vor Macron.

Dieser Rekordwert setzt sich allerdings bislang in den diesjährigen Regionalwahlen nicht fort. Bei den 18- bis 24-Jährigen schafft der Rassemblement National zwar zehn Prozent, so wie auch die kommunistische Partei Lutte ouvrière und Macrons Partei La République en Marche. Trotzdem sind die drei Parteien mit diesem Ergebnis die unbeliebtesten unter jungen Französ*innen. Die Grünen kommen mit mehr als 20 Prozent Vorsprung gegenüber allen anderen Parteien, insgesamt acht große, auf den ersten Platz in dieser Altersgruppe – eine Premiere für Frankreich.

Wenn die Linke sich für BIPoCs einsetzt, wird von „anti-weißem Rassismus“ gesprochen

Das Ergebnis bedeutet allerdings nicht, dass der Rechtsruck der französischen Jugend vorbei ist. Twitter und vor allem Youtube werden gerade in den vergangenen Jahren zum Sammelbecken der neuen Rechten. VA+ ist der Youtube-Channel der ultrarechten Wochenzeitschrift Valeurs Actuelles, übersetzt: Zeitgenössische Werte. Doch wie so oft in der rechten Szene ist der Name irreführend, denn das Blatt veröffentlicht immer wieder xenophobe und transfeindliche Inhalte. In Frankreich hat Valeurs Actuelles eine Auflage von fast 110 000 Exemplaren pro Jahr, der Youtube-Channel VA+ hat knapp 150 000 Abonnent*innen. Die Moderator*innen in den Videos sind jung, im Hintergrund leuchten Lichterketten, die Überschriften sind kurz und provokant: „Die ‚Woke‘-Ideologie – der neue Totalitarismus“ oder „Kaiser Napoleon in 11 Daten“. VA+ wirkt wie ein rechtsextremes Funk-Format.

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Geoffroy Lejeune übernahm mit 27 Jahren die Leitung der rechten Wochenzeitschrift Valeurs Actuelles.

Foto: Léonardo Kahn

Geoffroy Lejeune übernahm mit 27 Jahren die Leitung von Valeurs Actuelles. Damals war er jüngster Redaktionsleiter in Frankreich. Fünf Jahre später erhält er immer wieder Morddrohungen aufgrund seiner unzähligen rassistischen Beiträge. Warum tut er das trotzdem noch? „Aus Verantwortung gegenüber Frankreich“, antwortet Lejeune, Sohn eines Militäroffiziers. Der Liberalismus bedrohe die Kultur seines Landes. Da müsse er gegensteuern, zum Beispiel indem er sich für die Rechte von Polizist*innen einsetzt. „Ab und zu begegne ich einem auf der Straße, der mich dann für meinen Einsatz lobt. Ich würde sagen: Das verleiht meiner Arbeit und meinem Leben Sinn.“ Geoffroy Lejeune bezeichnet sich als reaktionär. Diese Haltung ist typisch für die rechtsextreme Jugend in Frankreich. Wenn die Linke sich gegen Diskriminierung von BIPoCs in Frankreich einsetzt, spricht Valeurs Actuelles von „anti-weißem Rassismus“. Und wenn die französische Kolonialgeschichte kritisch aufgearbeitet wird, bezeichnen sie sich als Bonapartisten. Dabei beziehen sie sich immer auf ein Grundrecht: die Meinungsfreiheit.

Nur wenige junge Menschen gehen in Frankreich überhaupt wählen

„Freiheit. Dieses Wort, an dem ihnen so viel liegt“, schreibt die Soziologin Anne Muxel in ihrem Buch „Politisch jung“. Die Leiterin des Forschungszentrums CEVIPOF ist Expertin für die Wechselwirkung zwischen Politik und Jugendlichen. „Der Rechtsruck in Frankreich ist real“, erklärt Muxel im Gespräch. „Und der Rassemblement National ist bei jungen Generationen auch beliebter als bei Älteren.“ Aber Muxel sagt auch: „Alles in allem ist die französische Jugend progressiv.“ Sie setze sich genauso sehr für die Umwelt, den Feminismus und ihre Freizügigkeit ein wie die in Deutschland oder England. „Nur lässt sich das nicht im Wahlergebnis nachweisen“, sagt die Expertin.

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Anne Muxel ist Soziologin und Expertin für die Wechselwirkung zwischen Politik und Jugendlichen.

Foto: Léonardo Kahn

Denn nur wenige junge Menschen gehen in Frankreich überhaupt wählen. Bei den Regionalwahlen waren es gerade mal 13 Prozent. Sogar wenn 100 Prozent dieser jungen Wähler*innen den Rassemblement National gewählt hätten, wäre das immer noch nur ein Achtel aller 18- bis 24-Jährigen. Davon ausgehend sollte man nicht verallgemeinern und von einer mehrheitlich rechtsradikalen Jugend in Frankreich sprechen, so Soziologin Muxel. 

Nicht zur Wahl zu gehen oder einen leeren Stimmzettel abzugeben, hat in Frankreich sogar Tradition. Es gibt eine eigene Bezeichnung dafür: vote blanc, weiße Abstimmung. „Die Gründe für eine Stimmenthaltung sind immer schwer zu entziffern“, erklärt die Soziologin Muxel. Manche gingen aus politischer Gleichgültigkeit nicht wählen, manche aus Unzufriedenheit mit dem Wahlsystem. Und die niedrige Wahlbeteiligung könnte noch einen anderen Grund haben: Das linke Lager ist in Frankreich in viele kleine Splitterparteien aufgeteilt. Viele links-progressive Französ*innen wissen daher oft nicht, wen sie wählen sollen. In diesen Fällen machen manche lieber von ihrem Demonstrationsrecht Gebrauch als von ihrem Wahlrecht.

„Macron und Le Pen sind für mich dasselbe“

Das zeigt sich auch an diesem Wahlwochenende: Während Nicolas und Natacha vom  Rassemblement National den Wahlsonntag im Parteisitz verbringen, gehen nur wenige Kilometer entfernt in Paris zehntausende Aktivist*innen für Toleranz und Vielfalt auf die Straße. Marion ist Mitorganisatorin der Pride-Demonstration. Sie ist auf der Île de la Réunion aufgewachsen, einer französischen Insel im Indischen Ozean. Seit sieben Jahren lebt sie in Paris. Als bisexuelle Schwarze engagiert sie sich für eine antirassistische LGBTQI+-Szene. Sie glaubt zwar, dass gesellschaftlicher Wandel auch eine unterstützende Politik braucht, bei den Regionalwahlen wählt sie dennoch nicht. Auch viele andere Demonstrierende auf der Pride sagen, dass sie für ihre Rechte lieber auf die Straße gehen, als zur Wahlurne. „Ich werde erst wieder wählen gehen, wenn ich für jemanden stimmen kann, anstatt immer nur gegen jemanden“, sagt eine Demonstrantin.

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Marion ist Mitorganisatorin der Pride-Demonstration in Paris. Sie engagiert sich für eine antirassistische LGBTQI+-Szene.

Foto: Léonardo Kahn

Auch wenn es für die Stimmenthaltung verschiedene Gründe gibt – ihr Einfluss auf die politische Landschaft ist konkret. Schon heute sagen viele Französ*innen, dass sie sich bei den Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr nicht noch einmal zwischen Emmanuel Macron und Marine Le Pen entscheiden wollen. „Macron und Le Pen sind für mich dasselbe“, spottet die Aktivistin Marion. Denn Emmanuel Macron hat mit einer Annäherung an konservative Parteien in seiner Amtszeit viele linke Wähler*innen verschreckt, auf die er jedoch angewiesen ist, um gegen Le Pen zu gewinnen. Und die nächstes Jahr vielleicht einfach gar nicht wählen gehen. Daher sehen viele Politolog*innen den Sieg der rechtsextremen Kandidatin als gar nicht mal so unwahrscheinlich.

Am 20. Juni fand die erste französische Regionalwahl statt. Die zweite Wahlrunde am nächsten Sonntag, den 27. Juni, ist allerdings die entscheidende. Dann wird der Regionalpräsident gewählt. Falls der Rassemblement National die südliche Region Provence-Alpes-Côtes-d’Azur für sich beanspruchen kann, wäre das ein klarer Sieg für die Partei – und vielleicht ein Zeichen für die Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr. 

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