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„Wir Belaruss*innen im Ausland fühlen uns wie Verräter*innen”

Protestierende in Krakau kämpfen für ein demokratisches Belarus
Foto: Stringer / AFP

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Der Sommer 2020 ist der Sommer, der aus Oli eine Aktivistin macht. In ihrem Heimatland Belarus wird gewählt. Und zum ersten Mal hat Oli das Gefühl, dass sich nach 26 Jahren unter dem autoritären Machthaber Alexander Lukaschenko etwas verändern könnte. Nach der manipulierten Wahl Anfang August brechen auch in der konservativen Kleinstadt, aus der Oli kommt, Tumulte aus. Regelmäßig protestieren Menschen auf der Straße. Und Oli ist mittendrin, mit ihrer Schwester, ihren Freundinnen. Die Veränderung ist greifbar.

Dann kommt der Anruf. Ein ehemaliger Klassenkamerad, der inzwischen beim Militär arbeitet, meldet sich. Oli vermutet, dass er ihre Stimme erkannt hat, sie hatte Parolen der Demonstrierenden mitgerufen. Der Bekannte bittet Oli, für ein Gespräch bei der Polizei vorbeizukommen. Er werde ihr nichts tun, wolle sich nur mit ihr unterhalten. Oli kennt solche Beschwichtigungen, weiß: Meist sind es Lügen. „Meine Mutter hat angefangen zu weinen und gesagt: Bitte, verlass das Land. Aber ich wollte nicht gehen“, sagt Oli. Sie lacht, während sie das erzählt. Weil sich das auch heute noch absurd anfühlt, sie, die Studentin, vorgeladen bei der Polizei. Und weil Lachen manchmal leichter ist als Weinen. Ein halbes Jahr ist die Situation inzwischen her, sechs Monate, in denen Oli ihre Familie nicht gesehen hat.

Nach mehreren Stunden Diskussion mit ihrer Familie ringt sie sich durch. Noch am gleichen Abend packt Oli ihre Sachen. Sie darf keine Zeit verlieren. Der Anruf kam am späten Nachmittag, um Mitternacht überquert Oli bereits die Grenze von Belarus nach Polen. „Ich erinnere mich nicht mehr an den Weg, nur daran, dass ich geweint habe“, sagt Oli. Vor der Grenze löscht sie alle Daten von ihrem Handy, auch Telegram und Facebook, nur für den Fall, dass ihr Verschwinden bereits aufgefallen ist und ihr Smartphone bei der Ausreise kontrolliert wird.

Mehr als 1,5 Millionen Belaruss*innen leben in der Diaspora

Oli ist Belarussin, lebt aber bereits seit zwei Jahren in Krakau, wo sie im Master studiert. Damit gehört sie zu den etwa 1,5 Millionen Belaruss*innen, die im Ausland leben. Im Sommer vor der Wahl war Oli in ihr Heimatland zurückgefahren, weil sie an eine Veränderung glaubte. Auch wenn sie in den vergangenen zwei Jahren viel Zeit in Polen verbracht hat, ist Belarus immer noch ihr Heimatland. „Ich hatte einen Ort, an den ich zurückkehren konnte – aber ich wollte hier nicht hin“, sagt Oli.

Das Studium in Krakau gebe ihr eine Perspektive, das Gefühl, selbst über ihr Leben entscheiden zu können. „Ich habe Belarus nicht verlassen, weil ich dort verhungert wäre. Nein, ich wollte in Freiheit leben, sagen können, was ich will, auf Instagram schreiben, was ich will.“ Polen ist für viele Belaruss*innen eine naheliegende Alternative. Die beiden Länder teilen sich eine mehr als 400 Kilometer lange Grenze und eine eng miteinander verwobene Geschichte, es gibt viele Belaruss*innen mit polnischen und Pol*innen mit belarussischen Wurzeln, es ist leicht, ein Visum, für das jeweils andere Land zu bekommen. Schon vor der Wahl lebten laut der polnischen Statistikbehörde mehr als 100 000 Belaruss*innen im Land, sie sind nach Ukrainer*innen die größte Gruppe an Migrant*innen. Die vielen von ihnen, die im Nachbarland dauerhaft sesshaft geworden sind, tauchen in diesen Statistiken schon nicht mehr auf.

Krakau fühlte sich anders an, als Oli wieder zurück war. „In der ersten Zeit hatte ich Angst vor jedem Menschen in Uniform“, sagt sie. Der Sommer hatte sie verändert. Dieses Gefühl konnte keine*r ihrer polnischen Freund*innen nachvollziehen. Richtig verstanden fühlte sie sich erst, als sie sich mit anderen Exil-Belaruss*innen traf, die eine ähnliche Unruhe antrieb. „Wir haben alle voneinander unabhängig zufrieden unsere Leben geführt. Und auf einmal mussten wir uns finden und organisieren“, beschreibt Yanna diesen Druck. Oli lernte sie im Sommer nach einem Facebook-Aufruf kennen. Die Belaruss*innen in Krakau organisieren zusammen politische Diskussionen und Demonstrationen, planen Ausstellungen, picknicken gemeinsam. Sie sind Selbsthilfegruppe und Protestbewegung zugleich – das anonyme Rückgrat der Revolution. Es sind Menschen, die bis vor Kurzem einfach nur Lehrer*innen, Student*innen, Ingenieur*innen waren. Die so einen Aktivismus selbst nicht von sich erwartet hätten. Und nun doch nicht anders können.

„Was ich gemacht habe, war untypisch für mich, es war untypisch für uns alle. Aber wir mussten unsere Ängste überwinden“, sagt Yanna. In den Tagen nach der Wahl, als Sicherheitskräfte und Demonstrierende nachts gegeneinander auf den Straßen kämpften, ging auch sie große Risiken ein. Um die nächtliche Gewalt zu stoppen, organisierte sie mit einer Freundin über Telegram die ersten Frauenproteste in Minsk, am helllichten Tag, für alle sichtbar auf dem zentralen Komarowka-Markt. Yanna erinnert sich noch an die Aufregung, als schon bald nach dem Aufruf über 8000 Frauen im Chat ihre Nachrichten mitlasen – und die Panik, als eine andere Aktivistin erwähnte, wie viel Verantwortung die Organisator*innen der Frauenproteste tragen, wie die Regierung sie für ihre Taten mit Gefängnis bestrafen würde. Trotzdem machte Yanna weiter, organisierte neue Proteste in Minsk und überlegte sich andere Demonstrationsmöglichkeiten. In den Telegram-Gruppen verschleierte Yanna ihre Identität. Während große Oppositionspolitiker*innen verhaftet wurden oder sich ins Exil flüchteten, schützte sie diese Anonymität – vorerst. Doch nach ein paar Wochen musste auch Yanna zurück nach Polen, ihr Mann hatte Angst um sie und im Job wurde sie gebraucht. In den ersten Wochen zurück in Polen konnte Yanna kaum klar denken. Gerade war sie noch mitten in einer Revolution, jetzt war sie wieder Lehrerin. Wie sollte das gehen?

„Nie wieder in meinem Leben werde ich mich so frei fühlen wie in diesem Moment“

Kseniyas Geschichte ist eine andere und Yannas doch so ähnlich. Sie war während der Wahl nicht in Belarus, sondern versuchte, in der Botschaft in Warschau zu wählen. „Doch ich kam nicht dran, ich war ungefähr die 400. in der Schlange.“

In den kommenden Tagen erfuhr sie aus den Nachrichten, was in ihrem Heimatland passierte. Nach und nach wurde klar, dass die Regierung Tausende Menschen verhaftete, die Gefangenen misshandelte und folterte. „Als all das bekannt wurde, konnte ich nicht schlafen, nicht essen, alles war so surreal. So etwas kennt man doch eigentlich nur aus den Geschichtsbüchern und jetzt passiert es hier, in Europa, im 21. Jahrhundert“, erzählt Kseniya. Belarus wurde zu einem der unsichersten Orte der Welt, immer brutaler ging das Regime gegen die Demonstrierenden vor, internationale Journalist*innen verließen das Land. Und Kseniya wollte nur noch eins – genau dorthin, zurück in ihre Heimat: „Ich habe Tickets gebucht und meinen Koffer gepackt. Ich habe mich nicht gefragt: Ist es sicher? Kann man überhaupt die Grenze überqueren, werden sie mich reinlassen? Ich habe nur gedacht: So etwas könnt ihr meinem Volk nicht antun. Ich war völlig irrational.“

In Belarus erlebte Kseniya, Gewalt, Zerstörung, Terror. Aber auch eine Euphorie, wie sie sie noch nicht gekannt hatte. „Eines Nachts saß ich mit einer Freundin auf dem Balkon. Es war am späten Abend, vielleicht zehn Uhr, und auf den ganzen anderen Balkonen, vor ihren geöffneten Fenstern standen die Menschen mit Feuerzeugen und sangen. Ich habe mir gedacht: Nie wieder in meinem Leben werde ich mich so frei fühlen wie in diesem Moment. Nie wieder werde ich mich glücklicher fühlen als jetzt“, erzählt Kseniya.

Seit sie zurück in Krakau ist, leidet Kseniya unter einer posttraumatischen Belastungsstörung. „Wenn ich nachts wachliege, spüre ich manchmal die Arme der Polizist*innen an meinem Bauch, so wie damals in Belarus“, erzählt sie. Auch wenn sie nicht verhaftet wurde, geriet sie in einigen Situationen mit der Polizei aneinander. Das verfolgt sie noch heute: „Eines Abends hatte ich eine Panikattacke, als ich gesehen habe, wie ein Polizist mit einem Bürger geredet hat. Der Mann schubste den Polizisten und dieser hat nach ihm gegriffen. Ich weiß nicht, was dann passiert ist, denn ich habe sofort angefangen zu weinen.”

Oli, Yanna, Kseniya – sie alle eint dieselbe Gefühlslage: eine Mischung aus Angst, Wut und Hoffnung. Doch ein Gefühl überlagere alle andere, sagt Yanna: „Alle Belaruss*innen, die im Ausland leben, fühlen furchtbare, immense Schuld. Ich bin nicht in Belarus, ich bin ein*e Verräter*in. Um dieses grausame Gefühl loszuwerden, tun wir alles Mögliche: spenden Geld, gründen Initiativen, helfen Geflüchteten aus Belarus, organisieren Proteste. Aber es hilft alles nichts, es ist niemals genug.“

Demos in über 60 Ländern

Im Oktober beschlossen die drei Frauen, Aufmerksamkeit für die Situation in Belarus zu schaffen – weltweit. Sie vernetzten sich mit Exil-Belaruss*innen in Dutzenden Ländern, leisteten viel Überzeugungsarbeit, schliefen zwei Wochen kaum und organisierten am 10. Oktober 2020 den Internationalen Frauenmarsch für Belarus. Durch die Krakauer Initiative gingen an diesem Tag in mehr als 60 Ländern Frauen auf die Straße, um für ein demokratisches Belarus zu demonstrieren. „Allein hier in Krakau kamen Tausende Menschen. Ich hatte Angst, dass es Probleme gibt, weil wir die Demonstration nur für ein paar Hundert angemeldet hatten“, sagt Kseniya. In nur wenigen Monaten wurden aus den jungen Frauen Initiatorinnen einer globalen Bewegung. „Vor einem halben Jahr war mein größtes Problem, dass ich keinen Job und keinen Freund habe. Jetzt habe ich keinen Job, keinen Freund und muss für die Freiheit meines Landes kämpfen“, sagt Kseniya. Die Frauen wissen: Wenn Lukaschenko an der Macht bleibt, könnten sie aufgrund ihres Engagements in ihrer Heimat verhaftet werden. Für sie nur ein weiterer Grund, warum der Machthaber gehen muss.

In den ersten Tagen nach der Wahl schienen die Revolution und der Fall Lukaschenkos greifbar nah, inzwischen ist die Hoffnung auf einen schnellen Machtwechsel verpufft. „Als ich im August nach Belarus gegangen bin, habe ich Champagner gekauft, weil ich dachte, wir stehen so kurz vor dem Sieg. Jetzt wirkt es, als würde es noch ein bisschen dauern“, sagt Kseniya. Oli überrascht das nicht: „Man muss sich auch klarmachen: 26 Jahre sind eine lange Zeit. Man kann nicht alles innerhalb von ein paar Monaten mit friedlichen Protesten verändern. Es wird ein langer Weg und er wird nicht immer leicht.“

Noch immer, fünf Monate nach der Wahl, gehen regelmäßig Tausende Belaruss*innen auf die Straße, um gegen die Regierung zu demonstrieren. Lukaschenko bleibt in seinem Vorgehen gegen die Demonstrant*innen hart, Gewalt und Verhaftungen sind an der Tagesordnung. Immer deutlicher wird die Grausamkeit des Machthabers. Anfang 2021 wurde bekannt, dass Lukaschenko auch vor Anschlägen im Ausland nicht haltmacht. Die europäische Nachrichtenseite EUobserver veröffentlichte Audiomitschnitte aus dem Jahr 2012, die belegen, dass das Lukaschenko-Regime Attentate auf politische Gegner im Ausland plante – auch in Deutschland.

Das Land wiederaufbauen

Die Proteste werden Belarus verändern, vielleicht sogar Europa. Aber ganz sicher haben sie schon jetzt alle drei Frauen verändert. Kseniya sagt: „Früher war ich ein ziemliches Partygirl. Aber oft fühlte ich innerlich nichts. Heute fühle ich mich nicht mehr tot, denn ich habe etwas, für das ich kämpfe. Ich weiß, das ist nichts, was man sich wünscht. Du willst nicht, dass Leute zusammengeschlagen, vergewaltigt, getötet werden. Aber so seltsam das klingt: Das gibt mir einen Grund zu leben.“

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