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Mommy-Kolumne, Folge 20: Wenn Kinder lügen lernen
In dieser Kolumne geht es um Schwangerschaft und Eltern-Sein, um die Hürden, das Glück, die Mythen rund ums Thema Kind. Unsere Autorin ist Mutter einer dreijährigen und einer einjährigen Tochter. Folge zwanzig: Wenn Kinder das Lügen lernen.
Ich weiß nicht, wann meine Tochter mich zum ersten Mal angelogen hat. Das letzte Mal gelogen hat sie jedenfalls gestern. Ich hatte ihr nicht erlaubt, Gummibärchen vor dem Mittagessen zu essen. Empört stampfte meine Dreijährige daraufhin auf und sagte: „Aber Papa hat gesagt, ich darf auch vor dem Mittagessen!”
Hatte Papa nicht gesagt, klar. Aber manchmal lügt sie eben. Manchmal wie hier, um Süßigkeiten zu bekommen. Manchmal, um sich aus etwas herauszureden. Wenn sie ihrer kleinen Schwester etwas wegnimmt und diese deshalb weint, sagt sie zum Beispiel „Ich habe ihr das Spielzeug nicht weggenommen, sie hat es mir gegeben!”. Wenn sie keine Lust hat, selbst zu laufen, kommt es vor, dass sie behauptet, Beinschmerzen zu haben. Und wenn wir sie fragen, ob sie schon Zähne geputzt hat, sagt sie manchmal „Ja“ – auch wenn die Zahnbürste noch trocken ist.
Statt sich zu sorgen, wenn das eigene Kind zu lügen beginnt, sollten Eltern diesen Meilenstein feiern. Das sagt zumindest Kang Lee, der unter anderem zu Kinderlügen forscht. In einem TED-Talk von 2016 hat er einige seiner Erkenntnisse zusammengefasst. Durch mehrere Experimente haben er und sein Team gezeigt, dass lügen zu lernen zum Aufwachsen dazugehört. So würden etwa 30 Prozent der Zweijährigen, 50 Prozent der Dreijährigen lügen und ab vier Jahren lügen fast alle Kinder – wenn sie glauben, sich mit der Lüge einen Vorteil verschaffen zu können. Frühes Lügen ist laut Lee kein Problem – sondern vielmehr ein gutes Zeichen. Zum Beispiel dafür, dass ein Kind eine Situation gut einschätzen kann: Es weiß, dass das Gegenüber nicht weiß, was es selbst weiß.
Die Forschenden haben sogar herausgefunden, dass Kinder ab vier Jahren die Entscheidung zu lügen, davon abhängig machen, ob es Zeug:innen gibt.
Kinder sind keine schlechten Lügner
Vermutlich hätte mir meine Tochter nicht erzählt, mein Mann habe ihr die Gummibärchen erlaubt, wenn er mit im Raum gewesen wäre. Um gut lügen zu können, brauche es außerdem eine Menge Selbstkontrolle, sagt Lee. Beide diese Fähigkeiten – die Selbstkontrolle und das richtige Einschätzen des Gegenübers – seien wichtige Skills, um sich erfolgreich in einer Gesellschaft bewegen zu können. Außerdem sei es in vielen Gesellschaften auch erwünscht, kleinere Notlügen zu erzählen, um die Gefühle der Mitmenschen nicht zu verletzen. Wann so eine Notlüge angemessen wäre, kann meine Tochter bisher noch nicht erkennen: Sie sagt unnötig deutlich, wenn sie ein Geschenk oder einen Besuch doof findet und heuchelt keinerlei Freude.
Dass unser Kind schon gezielt die Unwahrheit sagen kann, freut mich jedenfalls mit Blick auf Lees Erkenntnisse. Andererseits führt es dazu, dass wir misstrauischer sind und mehr kontrollieren. Wenn sie etwas aus dem Kindergarten erzählt, frage ich am nächsten Tag manchmal bei der Betreuung nach, ob das stimmt. Und wenn meine Tochter behauptet, mein Mann habe ihr etwas versprochen, dann versichere ich mich bei ihm rück. Oft liege ich mit dem Misstrauen richtig, manchmal aber auch nicht. Vor kurzem brachte ich meine Tochter sogar in den Kindergarten, obwohl sie behauptet hatte, Bauchschmerzen zu haben. Alles war wie immer, bis wir loswollten, deshalb glaubte ich ihr nicht. Eine Stunde später musste ich sie wieder abholen – sie hatte sich mehrfach übergeben. Es waren also echte Bauchschmerzen gewesen. Ich hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen.
Ich bin nicht gut darin, ihre Lügen zu erkennen. Ja, manchmal grinst sie schelmisch oder schaut mir nicht in die Augen, während sie lügt. Meistens aber schaut sie ganz neutral dabei. Dass Erwachsene ziemlich schlecht darin sind, die Lügen fremder oder eigener Kinder zu erkennen, hat auch der Kinderlügenforscher Lee herausgefunden. Nicht mal Menschen, die sich beruflich viel mit Kindern oder Lügner:innen befassen, konnten die Kinderlügen gut erkennen.
Obwohl Kinderlügen etwas Normales sind, können sie das Miteinander in der Familie erschweren. Wenn ich den Aussagen meines Kindes nicht glauben kann und die Lügen selbst auch nicht erkenne, dann passieren solche Sachen wie mit den Bauchschmerzen im Kindergarten. Die Psychologin Tori Cordiano rät Eltern, sich auf das Fördern von Ehrlichkeit zu fokussieren statt auf das Bestrafen von Lügen. Beispielsweise, indem die Kinder laut gelobt werden, wenn sie die Wahrheit gesagt haben. Statt auf der Lüge herumzureiten, sollten Eltern außerdem überlegen, ob es ein tieferliegendes Problem als Grund für die Lüge gibt.
Eine neue Studie von Lee suggeriert zudem, dass deutlich ausgesprochenes Vertrauen dazu beitragen kann, dem Mogeln entgegenzuwirken. Mein Mann hatte also die richtige Intuition, als er neulich zu unserer Tochter sagte, dass er ihr glaube, dass sie schon Zähne geputzt hätte. Obwohl wir uns recht sicher sind, dass sie gelogen hat.
Nicht klar ist, ob das Lügen von Eltern auch das Lügen der Kinder fördert. Manchmal behaupte ich zum Beispiel, dass es den Lieblingsfilm meiner Tochter heute nicht im Fernsehen gebe – obwohl wir ihn jederzeit streamen könnten. Diese kleine Lüge erspart mir die Diskussion, die ich mit ihr hätte, wenn sie wüsste, dass sie den Film nur aufgrund meiner Entscheidung nicht schauen kann. In einer Metastudie schreiben Lee und weitere Forschende, dass es durchaus Experimente gibt, die einen Zusammenhang zwischen solchen Lügen von Eltern und Kinderlügen sehen. Dieser könnte jedoch auch von anderen Faktoren beeinflusst werden.
Künftig möchte ich versuchen, möglichst ganz auf Lügen in der Erziehung zu verzichten und die Ehrlichkeit meiner Tochter so gut es geht zu fördern. Aber ich mache mir auch keine Illusionen: Lügen gehört zum Menschsein dazu – ob für einen persönlichen Vorteil oder um die Gefühle Anderer zu schonen. Das zeigt auch die Tatsache, dass Kinder das Lügen schon so kurz nach dem Sprechen lernen.