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Von Beruf großer Bruder

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Ganz schön aufgeregt war er, damals im April 2006. War das Haus der Kunst der richtige Ort für die erste Verabredung? Würde der andere denken, er sein ein uncooler Nerd, der sich nur mit Bildungsquatsch beschäftigt? Was, wenn sie sich nichts zu sagen hätten? Und würde das Ganze überhaupt funktionieren? Zwei Stunden später wusste 35-jährige Philip Scherenberg: Es funktionierte. Besser hätte er es kaum treffen können. Auf Anhieb gefiel Gregor, dass sein neuer Mentor Philip eine Ausstellung für ihr erstes Treffen gewählt hatte. Über zwei Stunden gingen sie durch die Ausstellungsräume, diskutierten über einzelne Werke, tranken hinterher einen Kaffee zusammen und stellten fest: Das letzte, was ihnen ausgehen würde, war der gemeinsame Gesprächsstoff. Und Philip merkte noch etwas bei seinem ersten Treffen mit seinem so genannten Mentee Gregor: die Idee eines Schüler-Mentoren-Programms funktionierte. Schülern tut es gut, Menschen zu haben, mit denen sie unbefangen über Schulnoten, Elternstress und Studienpläne reden können. Und den Mentoren tut es gut, jemanden zu unterstützen und dabei zuzuschauen, was sich mit ihrer Unterstützung entwickelt. „Viele Leute wollen einzelnen Menschen helfen, und sehen, was sie mit ihrer Arbeit bewirken, anstatt Geld irgendwohin zu spenden“, stellte Philip fest.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Helfen ist ganz normal Auf die Idee gekommen war er während einer Projektarbeit in Kanada. Als er dort Mentorenprogramme für Musiker, Künstler oder Sportler kennen lernte, habe er erst verstanden, dass es in anderen Ländern ganz normal sei, jemanden von außen nach Hilfe zu fragen, wenn man Rat brauche, sagt er. Und diesen Rat benötigen Schüler seiner Meinung nach heute mehr denn je, denn die Eltern oder der Trainer im Fußballverein sind im Dschungel der Möglichkeiten wenig hilfreich. Und oft ist es einfacher, mit einer neutralen Person zu besprechen, ob beispielsweise ein Auslandsjahr in Frankreich sinnvoll ist. Der Mentor nimmt die Rolle eines großen Bruders oder Patenonkels ein. Und gleichzeitig hat der Mentee jemanden, den er um Rat fragen kann, ohne dass Eltern oder Lehrer sich einmischen. Natürlich wollte Philip auch selbst als Mentor dabei sein, als 2006 die Testphase der „Komplizen“ losging, wie er die gemeinnützige GmbH gemeinsam mit Mitgründerin Kristina Sacken getauft hatte. Gregor war einer der ersten Schüler, die sich als Mentees meldeten. Er war damals 16 und dachte darüber nach, später Verfahrenstechnik zu studieren. Weil er sich damit nicht sicher war, wurde er neugierig, als sich die Komplizen an seiner Schule vorstellten. Melden musste er sich bei ihnen selbst – wie alle der 100 Schüler, die in München mittlerweile einen Mentor haben. Das ist eine der Vorausetzungen, um an dem Programm, zu dem Seminare und Besuche an den Arbeitsplätzen verschiedener Mentoren gehören, teilzunehmen. Diese Auswahlmethode hat auch ihre Nachteile. Gedacht war das Programm ursprünglich für alle Schularten. Als nach Veranstaltungen an Real- und Hauptschulen überhaupt kein Feedback kam, beschloss Scherenberg, das Programm vorerst nur an Gymnasien anzubieten. „Wir wollen nur Schüler dabei haben, die wirklich Lust auf das Jahr mit einem Mentor haben.“ Eine Voraussetzung, die auch für die Mentoren gilt. Sie müssen zwischen 25 und 39 Jahre alt sein und eine abgeschlossene Ausbildung haben. Wenn sie sich bewerben, müssen sie einen Lebenslauf einreichen, Referenzpersonen nennen und sogar ein polizeiliches Führungszeugnis vorlegen. „Wir wollen auf Nummer sicher gehen“, sagt Philip, und das meint er in jeder Hinsicht. Deshalb gibt es Seminare, in denen die Schüler herausfinden können, wofür sie sich am meisten interessieren und was sie während des Mentorenjahrs lernen wollen. So fällt es den Mentorenvermittlern leichter, einen idealen Tandempartner zu finden. Den lernen sie dann in einem Gruppenseminar das erste Mal kennen – gemeinsam beantworten Mentor und Mentee Fragen wie „Wie beschreiben Dich Deine Freunde?“. Diese ersten 20 Minuten sind nicht einfach, Mentoren wie Mentees sind aufgeregt, haben Angst und stellen am Ende fest: Letztendlich wollen sie beide das gleiche. Vom anderen lernen und gegenseitige Neugier und Aufmerksamkeit. Für das Mentorenjahr stellen Mentoren und Mentees gemeinsame Regeln auf. Dazu gehört, dass man nicht gemeinsam Bier trinken geht, sondern Kaffee, und dass berufliche Fragen Priorität haben. Was nicht heißt, dass es nicht auch mal um das Foto im Lokalisten-Profil oder den Streit mit der neuen Freundin geht. Ist die Kennenlernphase erst einmal vorbei, kommen die Mentoren und ihre Mentees aus dem Quatschen meist ohnehin nicht mehr raus. „Da ist es manchmal sogar schwer, die Aufmerksamkeit wieder auf die Seminarinhalte zu lenken“, erzählt Philip. Das liegt vor allem daran, dass die Tandempartner sorgfältig füreinander ausgewählt werden, mit genügend Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschieden. Das Komplizen-Team stellt nicht zwangsläufig einem Mentee, der gerne Journalist werden möchte, einen Medienmenschen an die Seite. Genauso wichtig ist es, dass sich beide für Fußball oder Musik interessieren oder die gleiche Heimatstadt haben. Damit auch die Einzelverabredungen der Tandems klappen, die nach dem Gruppenseminar mindestens einmal im Monat stattfinden. Der „ältere Kumpel“ So kommt es, dass sich auch Philip, der Doktor der Philosophie und Gregor, der künftige Verfahrenstechniker, vom ersten Moment an viel zu erzählen hatten. Noch heute – drei Jahre nach dem ersten Treffen und kurz bevor Gregor sein Abitur macht – treffen die beiden sich regelmäßig. Sie sind damit ein Ideal-Tandem. Immer klappt das aber nicht: „Natürlich gab es auch schon Fälle, in denen einer von beiden keine Lust mehr hatte“, erzählt Philip Scherenberg. In ungefähr sieben von 100 Fällen wird das Tandem vorzeitig aufgelöst. Im Idealfall läuft es dann wie bei ihm und Gregor. Heute, drei Jahre nach dem ersten Treffen im Seminar und im Haus der Kunst, verabreden sie sich noch immer regelmäßig und gehen Snowboarden oder Golfen. Gregors Freunde witzeln gerne mal, wenn er wieder mal seinen „älteren Kumpel“ zum Mittagessen trifft. Angst, als uncooler älterer Nerd gegenüber seinem Mentee zu wirken, hat Philip Scherenberg dennoch nicht mehr: „Gregor antwortet dann, dass die das erstmal auch ausprobieren sollen, dann wissen sie, was das bringt“, sagt er stolz.

Text: lea-hampel - Fotos: www.die-komplizen.org

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