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Spurensuche an der Goldküste
Goldküste nennt man das Ostufer des Zürichsees. Die Sonne scheint hier länger und intensiver als am Westufer, welches die Schweizer „Pfnüsel-Küste“ (Schnupfenküste) nennen. Es blühen hier Oleander und Zitronenbäume, ab und an weht ein milder Wind von den Hängen hinab und kräuselt das Wasser, in dem sich die Sonne spiegelt. Im Hintergrund schimmern die Gipfel der Schweizer Alpen. Hier leben Schauspieler, Tennisstars und Wirtschaftsbosse. Die Steuern sind niedrig und die Immobilienpreise hoch. Hier an der Goldküste, zehn Minuten mit der S-Bahn südlich von Zürich liegt Küsnacht. Hier gingen Benji, Ivan und Mike, die „Schläger von München“ in die Schule. Zwei Wochen ist es her, dass die drei während einer Klassenfahrt in München zunächst auf einen Behinderten und zwei Obdachlose, auf einen Studenten und schließlich auf einen Familienvater einprügelten. Einfach so. „Amoklauf ohne Waffen“ nannte es der Staatsanwalt Laurent Lafleur. Einige Klassenkameraden johlten und applaudierten, als die drei 16-Jährigen auf die Köpfe ihrer am Boden liegenden Opfer eintraten. Sie hätten „einen Kick gesucht“ und wollten deswegen „aus Spaß ein paar Leute wegklatschen“, sagten die Täter der Polizei. Eines der Opfer liegt noch immer mit schweren Gesichtsverletzungen im Krankenhaus. Bis vor kurzem waren sich die Ärzte nicht sicher, ob sie das Augenlicht des 46-Jährigen retten können.
Versuchter Mord aus Langeweile?
Bestraft wird ein Mensch, weil er sich hätte anders verhalten können, nicht weil er an einem bestimmten Fleck der Welt aufgewachsen ist. Kann ein Ort also etwas über eine Tat erzählen? Über eine Tat, bei der fünf Unschuldige grundlos zusammengeschlagen wurden, die in ihrer Willkür und Brutalität einmalig ist und die ein ganzes Land in Aufruhr versetzt hat? Was sagt ein Ort, der zu den exklusivsten der Welt gehört und der 2006 von dem Wirtschaftsmagazin Bilanz zur „lebenswertesten Stadt“ in der Schweiz gewählt wurde, über das Innenleben seiner Bewohner?
Rund 500 jugendliche „Intensivtäter“ gibt es in der Schweiz. Sie sind in der Regel männlich, haben einen so genannten Migrationshintergrund, stammen aus einer „bildungsfernen Schicht“ und leben in problematischen Familienverhältnissen. An der Goldküste würde man sie kaum vermuten.
Langsam, fast schwerfällig dringen die Worte aus dem Mund von Max Heberlein und man weiß nicht, ob es an der Züricher Gemütlichkeit liegt oder ob die Ereignisse der letzten zwei Wochen den Schulpräsidenten von Küsnacht müde gemacht haben. Mike, Benji und Ivan gingen hier auf die Weiterbildungs- und Berufswahlschule, um die Zeit bis zum Beginn einer Lehre sinnvoll zu überbrücken. Am Ende des Schuljahres stand die Klassenfahrt nach München. Zwei von ihnen hatten bereits eine Zusage für eine Lehrstelle, als Friseur und Autospengler. Heberlein hat Emails erhalten, in denen stand, die drei Schüler „gehören ins KZ und die Schulbehörde gleich mit.“ Mike war wegen Köperverletzung vorbestraft, Ivan wegen Raub. Doch zwei Anzeigen machen aus einem 16-Jährigen noch keinen Intensivtäter. Falten runzeln sich auf der Stirn des Schulleiters. Man hat der Schule vorgeworfen, nicht angemessen auf die Vorstrafen der drei reagiert zu haben. „Ich habe nie einen Strafregisterauszug gesehen. Es ist außerdem illusorisch von Jugendlichen zu verlangen, beim Aufnahmegespräch Fehltritte von sich aus offenzulegen.“ Die drei waren beliebt bei Schülern und Lehrern. Sie spielten in den Pausen zusammen Streetball. Die Schule von Küsnacht ist keine, auf deren Pausenhof es Schlägereien gibt. „Sie hatten hier eigentlich alles“, sagt der Schulpräsident. „Es gibt hier viele Sportangebote. Zürich ist nicht weit. Außerdem verprügelt man doch niemanden aus Langeweile.“
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Auf eine Bank vor dem Schulgebäude hat jemand in Großbuchstaben das Wort „Drogen“ geschrieben. Drei 14-jährige Mädchen sitzen darauf und unterhalten sich kichernd darüber, ob man sich auch mit Shampoo die Beine rasieren kann. Die Schüler sind dazu angehalten worden, nicht mit der Presse zu sprechen. „Aber heute ist letzter Schultag, deswegen gilt das nicht mehr“, sagt einer der Jungs. Er war mit den dreien in einer Klasse. Nett seien sie gewesen, nur einer hätte manchmal „Stress gemacht“, aber so etwas passiere halt.
Am Mittwoch meldete sich ein 25-Jähriger anonym bei dem Schweizer Boulevard-Blatt Blick. Er sei derjenige, dem Mike vor etwa einem Jahr mehrfach das Nasenbein gebrochen habe. Seine Geschichte ähnelt dem Fall der Münchner U-Bahnschläger, die im Dezember 2007 vor laufender Überwachungskamera einen Rentner krankenhausreif schlugen, weil er von ihnen verlangt hatte, in der U-Bahn nicht zu rauchen. Damals im Sommer 2008 sitzt er dem 15-jährigen Mike in der S-Bahn gegenüber. Mike raucht. Er sagt ihm: Mach deine Zigarette aus! Anstatt sie auszudrücken steht Mike auf, schimpft und prügelt mit der Faust auf den sitzenden 25-Jährigen ein, bis dessen Nasenbein mehrfach bricht. Zu einer Geldstrafe von 150 Schweizer Franken und zehn Tagen sozialer Arbeit wurde Mike verurteilt. Vier Jahre ist die Höchststrafe im Schweizer Jugendstrafrecht. In Deutschland sind Mike und seine Freunde jetzt wegen versuchten Mordes angeklagt – ihnen drohen zehn Jahre Haft. Das Wort „Kuscheljustiz“ fällt deswegen in der Schweiz oft.
Uetikon am See liegt südlich von Küsnacht, zwei Stationen sind es von dort mit der S-Bahn. Es ist Mikes Heimatort. Ein Weg führt an Blauburgunder-Weinreben, Blumenwiesen und Fachwerkhäusern vorbei den Hang hinauf. Manche der Häuser tragen Namen und an ihren Wänden ranken sich Rosen empor. Einheimische grüßen Fremde mit einem „Gruezi“. Ein Reporter des Blick sitzt im Stadtcafe und raucht Kette. Tagelang waren die „Schläger von München“ auf Seite 1 des Boulevard-Blatts. Um die Geschichte nochmals weiterzudrehen, ist er auf der Suche nach dem anonymen 25-Jährigen, um mit ihm zu sprechen und ein Foto von ihm zu machen.
Mikes Eltern wohnen in einer Mietswohnung am oberen Ende der Ortschaft. Vier Stockwerke hat das Haus, ein verschlafener Hausmeister in Badeschlappen öffnet die Tür und schüttelt nur müde den Kopf. Er habe von nichts gewusst, Mike sei ihm nicht negativ aufgefallen. „Solche wie die hängen am Bahnhof rum“ Weiter unten am See ist das Soul Side, eine Dorfkneipe. „Eintritt ab 20“ steht groß neben der Eingangstür auf einem Schild geschrieben. Der Barkeeper sagt, hier seien die drei nie gewesen, dürfen sie ja auch nicht. „Solche Leute wie die hängen am Bahnhof rum.“ Es ist fünf Uhr Nachmittag und Dario steht am Bahnhof mit seinen Freunden und dreht einen Joint. „Im Jugendzentrum“, sagt er, „sind nur Schüler und Muschis. In die Bars kommen wir nicht rein. Deswegen hängen wir jeden Tag hier rum.“ Er stammt aus dem Kosovo, seine Freunde sind Portugiesen, Schweizer, Türken. Sie kannten die drei, mit Mirko, Ivans Bruder, sind sie befreundet. Sein Freund, ein hoch gewachsener Kosovare sagt: „Wir schlägern uns schon hin und wieder, aber nur mit Gleichaltrigen. Außerdem ist Schluss, wenn einer am Boden liegt.“ Dario lacht. „Naja, meistens halt.“ „Ja ok, aber wir verprügeln nicht zu dritt einen Behinderten.“ „Ich bin eigentlich eh immer viel zu bekifft, um mich zu schlägern“, sagt ein Dritter, der gerade eine Ausbildung zum Landschaftspfleger macht. In einem sind sich alle einig: Die drei haben die Höchststrafe verdient, zehn Jahre sollen sie bekommen. Ivan wuchs in Stäfa auf, zwei S-Bahn-Stationen südlich von Uetikon. Unten am Seeufer liegt ein kleiner Yachthafen und eine Werft für Sportboote. Dahinter wechseln sich Villen und quaderförmigen Designer-Appartments ab, die zur Hälfte aus Glas bestehen. Ivans Mutter wohnt weiter oben mit seinem Bruder Mirko in der Nähe des Bahnhofs: eine gediegene Siedlung aus vierstöckigen Mietshäusern, wie es sie in deutschen Großstädten zu Hunderten gibt. 25 Minuten braucht man von hier nach Zürich. Die S-Bahnen fahren im 30-Minuten-Takt bis in die spät in die Nacht. Die umliegenden Dörfer sind mit einem effizienten Bussystem miteinander verbunden. Im Münchner Umland ist man abgeschnittener als hier. „Es gibt auch höfliche Jugendliche,“ sagt Busfahrer Erich Stein. „Aber das sind vielleicht 30 Prozent. Der Rest sind Scheißtypen“. Sein Kollege Werner Schnorf nickt. Erst letztens sei er von einem Jugendlichen bedroht worden, weil der sich weigerte, den Nachtzuschlag zu bezahlen. „Das sind fast immer Ausländer", sagt er. „Die wollen sich einfach nicht integrieren. Deswegen muss endlich Schluss sein mit dieser Kuscheljustiz. Ihr in Deutschland macht das richtig. Zehn Jahre sollen die drei bekommen.“ Sein Kollege Erich Stein sagt, sie hätten „früher auch Bier gesoffen, bis es uns bei den Ohren rauskam. Aber heute kiffen sie auch noch und ich glaube, diese Mischung macht die Aggressivität.“ Zwei der „Schläger von München“ sind gebürtige Schweizer, Ivan hat einen slowenischen Pass. 1,0 Promille hatten Mike, Benji und Ivan im Blut, als sie auf ihre Opfer einschlugen, außerdem hatten sie einen Joint geraucht. Mit einem solchen Wert ist man enthemmt, von Unzurechnungsfähigkeit aber weit entfernt. Man kann die Frage stellen, ob der Luxus der Goldküste Frustration entstehen lässt. Ob diese satte Schönheit Langeweile erzeugt, die zusammen mit Enge eine explosive Mischung ergibt. Doch selbst, wenn man Antworten auf diese Fragen fände: Sie werden die Tat von München nicht erklären.
Text: philipp-mattheis - Fotos: Philipp Mattheis