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„Sieben Linden“: Besuch in einem der größten alternativen Lebensprojekte Europas
Am Rande des Dorfes, im lichten Kiefernwald rauscht ein Sommerwind. Er bringt Salz vom Meer. Ein Vogel schreit und ein Rollstuhl ruckelt über Wurzeln und Gräser. Darin sitzt ein kleiner Mensch mit wach-frohen Augen.
Jeden Tag um drei Uhr holt Michi Anna am Dorfplatz ab, um eine Runde mit ihr zu drehen. Anna ist 87 Jahre alt, Michi 24. Beide haben in „Sieben Linden“ hier einen Platz gefunden: Anna zum Sterben, Michi zum Leben. Wenn Anna sagt, dass sie sterben möchte, muss Michi immer lächeln. Weil dieser Platz zu wichtig ist, um ihn gleich wieder zu verlassen.
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Wer hier lebt, hat für sich erkannt: Draußen läuft etwas falsch.
Draußen basteln die Menschen an ihrem Untergang. Sie belasten die Erde mit CO2, sie führen Kriege um Öl und Wasser, sie leben für den Konsum und vereinsamen dabei. Wer in Sieben Linden lebt, hat beschlossen, ein anderes Leben zu führen. Ein Leben ohne Handy, Fleisch und Flugzeug. Ein Leben mit Ruhe, Natur und Nähe. Ein „korrektes“ Leben.
Anna kam hierher, als sie 81 Jahre alt war. In der taz hatte sie eine Anzeige gelesen, sie suchte einen Platz zum Nachdenken, an dem sie aber nicht alleine ist.
Solardusche und Kompostklo
Michi schiebt Anna über den JuLe, den Platz der jungen Leute, und über die Schotterstraße zum Globodrom. Das ist ein kreisförmiger Garten, eingezäunt von gebogenen Ästen. In seiner Mitte stehen drei Jurten, umgeben von Klangspielen. Gärtner Wolf gießt die gerade neu gepflanzten Kiwis. Als er Anna sieht, beugt er sich zu ihr hinunter, nimmt ihre Hände und beginnt ein Gespräch. Smalltalk in Sieben Linden dauert. Ein „Wie geht’s?“ kann eine ausführliche Befindlichkeitsaufnahme und Umarmungen zur Folge haben. Wolf erzählt von der neuen rothaarigen Freundin seines Sohnes und dass er bald Opa werden möchte.
Das Ökodorf Sieben Linden liegt in der Altmark, Sachsen-Anhalt, 50 Kilometer östlich von Wolfsburg, zwischen ehemaligen LPGs und Dörfern mit roten Backsteinhäusern. 1997, nach einer langen Suche, kauften 20 Leute gemeinsam mehrere Hektar Land, weil sie ökologisch und ökonomisch nachhaltig zusammenleben wollten. Sie bauten ihr eigenes Gemüse an, sie konstruierten Solar-Duschen, entwarfen ein Kompostklo, das ohne Wasserspülung und Chemikalien auskommt. Sie entwickelten auch ein Entscheidungsfindungsmodell, mit dem Probleme so lange diskutiert werden, bis sich alle Bewohner einig sind. Mittlerweile ist aber das Konsensprinzip durch eine Zwei-Drittel-Basisdemokratie ersetzt worden – das ist praktikabler.
80 Erwachsene und 30 Kinder leben heute dauerhaft auf Sieben Linden. Dazu kommen neun Jugendliche im Freiwilligen Ökologischen Jahr und Gäste. Damit ist Sieben Linden eines der größten alternativen Lebensprojekte Europas, Eva Stützel hat es mit aufgebaut. Es sollte schnell wachsen, erinnert sie sich, weil „kleinere Gemeinschaften schnell zerbrechen, wenn die tragenden Beziehungen scheitern.“ Mittlerweile stammen fast 80 Prozent des konsumierten Gemüses und die Hälfte der Kartoffeln aus Eigenproduktion. „Eine vollständige Autarkie streben wir aber auch nicht an. Wirtschaftliche Beziehungen betten auch in die Umgebung ein“, sagt Eva. Für die Bewohner der Nachbardörfer seien sie „wohlgelittene Freaks“. Die Menschen in Sieben Linden wollen „zwar nicht missionieren, aber inspirieren.“
Auf der nächsten Seite: Der Club 99, dessen strenge Regeln und warum Michi ein Vermögen für einen Bauwagen ausgibt.
Später am Nachmittag wird Michi barfuß Unkraut vom Kartoffelacker jäten. Eigentlich mag er das Wort nicht: „Die meisten Pflanzen, die man so als Unkraut bezeichnet, sind auch nützlich.“ Morgen soll mit Pferd und Pflug geerntet werden – Pferde sind die einzigen Nutztiere im Dorf. Am Streit um Tiere wäre die Gemeinschaft fast zerbrochen. Die wenigen Fleischesser wollten auf dem Dorfplatz ein Schaf schlachten, da lief die vegane Fraktion Sturm. Am Ende stand ein Kompromiss: Kein Tier solle je in Sieben Linden getötet werden, doch wer in seinen vier Wänden Fleisch essen will, kann das tun, ohne von den Veganern dafür angefeindet zu werden. Die gemeinsamen Mahlzeiten am Dorfplatz mittags und abends sind seitdem vegan. Wer länger in Sieben Linden bleiben will, muss den Status eines „Dauergasts“ beantragen. Die Dorfbewohner entscheiden gemeinsam, ob sie den Bewohner aufnehmen möchten. Die Neuankömmlinge leben zunächst in Bauwägen. Erst später, wenn ein Platz frei wird, ziehen sie in die aus Strohballen gebauten Häuser ein. Sieben Linden ist in mehrere Nachbarschaften geteilt, die sich in ihren Lebenskonzepten unterscheiden. Die „Hardcore-Ökos“ wohnen im Club 99. Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, nur zehn Prozent des CO2 zu verbrauchen, das ein Deutscher im Schnitt als ökologischen Fußabdruck hinterlässt. Sie brauchen nur einen Bruchteil an Strom, fliegen nie und nutzen nur in Notfällen ein Auto. Wenn Sieben Lindener vom Club 99 sprechen, tun sie das mit Hochachtung und „Für mich wäre das ja nichts“-Gestus. Ein bisschen freie Liebe Michi lebt seit zwei Jahren als „Probezeitler“ hier. Er kommt aus Ulm, aus einer ganz normalen, bürgerlichen Familie, sagt er. Nach dem Abitur fuhr er nach Jamaika und stellte für sich fest: Je weniger die Menschen besitzen, desto glücklicher sind sie. Seine Freundin Sophie, 21, war gerade mit dem Abitur fertig, als sie nach Sieben Linden kam, um dort beim Club 99 ein Freiwilliges Ökologisches Jahr zu absolvieren. Noch wohnen Michi und Sophie zusammen in einem alten Bauwagen. Aber bald will Michi seinen neuen beziehen, 5 500 Euro hat er dafür bezahlt. „Natürlich kriegt man die auch billiger, aber dann wird oft Styropor zur Wärmedämmung verwendet. Dieser hier ist ökologisch korrekt“, sagt er und zeigt auf eine Holzhütte mit Rädern nahe dem Globodrom. Manchmal geht dort schon um sechs Uhr morgens die Tür auf und Michi macht sich auf die Suche nach Wildkräutern. Manchmal geht die Tür aber auch erst um elf Uhr auf. „Kommt immer darauf an, was zu tun ist“, sagt er. Michi schiebt Anna vorbei an der „Feenwiese“, zum Dorftümpel, in dem zwei Dreadlockträgerinnen nackt zwischen Fröschen baden. Es soll auch sowas wie freie Liebe geben. „Wir experimentieren mit Beziehungsmodellen“, sagt die 19-jährige Laura, die vergangenes Jahr in Sieben Linden ihr FÖJ machte und seitdem immer wieder zurückkehrt. „Aber das heißt nicht unbedingt Sex. Es geht mehr um Zuneigung und Zärtlichkeit.“ Angeblich soll keines der Paare, die 1997 nach Sieben Linden kamen, noch zusammen sein. Auch die 87-jährige Anna hatte insgesamt drei Liebschaften in ihrer Zeit in Sieben Linden. Doch das war früher. Früher ging Anna auch noch jeden Tag selbst in den Wald und sammelte Brennholz für das Dorf. Ihr Tag bestand aus Holzsammeln und dem Schreiben ihrer Memoiren. Dann stürzte sie eines Morgens die Treppen ihres Bauwagens hinunter und brach sich den Oberschenkelhalsknochen. Seitdem sagt sie immer wieder Sätze wie: „Ich lasse alles los“ und „Ich will hinübergehen“. Sie sagt aber auch: „In Sieben Linden lebe ich endlich ein sinnvolles Leben, weil ich dazu gehöre.“
Text: philipp-mattheis - Fotos: Autor