- • Startseite
- • jetztgedruckt
-
•
„Sie sahen glücklich und frei aus“
Tama malt Wellen. Sie trägt Wollsocken und Hose mit Loch, stapelt in ihrem Zimmer Bücher und Musik, aber nur so viel, wie in einen Koffer passt. Keine Möbel. Tama ist vor Monaten in Innsbruck angekommen und noch immer auf Reisen. Weiter weg vom Meer kann man kaum sein. Draußen blickt sie auf steile, verschneite Berggipfel. Die Stadt wirkt von jeder Seite von den Alpen bedrängt, zusammen geschoben, beschattet. Und trotzdem beschützt. In ihrer Küche in Innsbruck malt Tama*, 19 Jahre alt, Wellen auf ein Stück Leinwand während sie spricht. Eine nach der anderen. Sie spricht ruhig, fast melodisch, aber langsam. Ohne die Wellen wären vielleicht die Pausen, die sie zwischen Frage und Antwort lässt, weniger lang. Ohne die Wellen wäre ihre Geschichte eine, die fröhlicher und leichter erzählt werden kann als die, die in Barcelona beginnt, an einem Abend im November 2008 am Strand, an dem sich Tama ein bisschen langweilt und es schon dunkel ist. Jemand spielt Gitarre, andere jonglieren, viele sind jung, Erasmusstudenten und Abiturienten, die wie Tama erstmal was von der Welt sehen wollen, um sich klarzuwerden, ob sie eine Ausbildung machen oder studieren oder nichts von alledem. Immer wieder wird sie gefragt, was sie machen will – jetzt, wo die Schule vorbei ist? Aber das ist die falsche Frage, denkt Tama. Wie soll sie sich für ein Studium entscheiden, solange sie noch nicht weiß, wer sie eigentlich ist? Wie soll sie sich entscheiden, solange die Welt so fremd ist? Also ist Tama nach Barcelona gekommen. Es hätte auch jede andere Stadt in Europa sein können, in der Tama die Suche nach ihrer Zukunft beginnt. An diesem Abend im November fragt ein Mädchen mit verfilzten Haaren Tama nach einer Zigarette. „Ein Punkt, auf den vieles zurückzuführen ist“, sagt sie, denn ohne Veronika wäre sie nicht auf das Boot gestiegen. Veronika reist zusammen mit Alex, einem Freund. Die Drei finden sich spannend, Veronika, Alex und Tama, von Anfang an. In Tamas Tagebuch liegt ein Foto von Veronika, die an einer Laterne lehnt, im Hintergrund eine Straße und ein Schild. Darauf steht ein Zitat des Liedermachers Fabrizio d´André: „dai diamanti non nasce niente, dal letame nascono i fiori“. „Aus Diamanten wächst nichts, aus Mist wachsen Blumen“. „Vero war auch auf der Suche“, sagt Tama. Ein paar Wochen lebt sie mit Veronika und Alex in der Wohnung in Barcelona, die Tama von einem Bekannten überlassen bekommen hat. Im Dezember wollen Veronika und Alex weiter. Tama geht mit. Silvester verbringen die Drei in den spanischen Bergen, dann trampen sie weiter nach Almeria. Alex und Veronika haben von einem Segelschiff namens "Taube" gehört, an Bord junge Leute, die nach Südamerika segeln wollen. Im Hafen von Almeria müssen sie nicht lange nach der Taube suchen. Der Rumpf ist bunt bemalt. Nahezu alles, was an Bord gehört, liegt zum Sortieren um das Boot herum – Schwimmwesten, ein paar Säcke Bohnen, Seekarten und Rettungsmittel. An einer Leine hängen Kleider zum Trocknen. Die Taube hat zu diesem Zeitpunkt schon eine weite Reise hinter sich. Im Spätsommer 2007 beschliessen ein paar junge Leute aus Tübingen mit einem eigenen Boot nach Südamerika zu reisen. Sie wollen nicht unnötig CO2 produzieren, sie wollen den direkten Kontakt zu den Menschen suchen – das Boot soll ein Zeichen für Völkerverständigung werden. Sie gründen den Verein Migrobirdo und kaufen an der Ostsee ein acht Meter langes Segelboot. Die Taube. Die Renovierung des Schiffes dauert länger als geplant. Erst Mitte Oktober legt das kleine Boot endlich ab. Auf der Ostsee ist es zu der Zeit nicht mehr allzu gemütlich. Im Cockpit kommen Wellen über, die Ersten werden seekrank, das Tageslicht schwindet schnell und ohne Heizung ist es an Bord kalt und nass. Im Tagebuch der Taube steht am 24. Oktober 2007: Ein Tag in Rendsburg. Abends am Lagerfeuer beschließen wir, dass wir umkehren und uns in der Ostsee ein Winterlager suchen. Die Reise nach Süden und die Atlantiküberquerung sind auf das nächste Frühjahr verschoben. Es wird Mai, ehe das kleine Boot erneut aufbricht. Hannes, ein redelustiger, quirliger 24-Jähriger, ist von Anfang an dabei und fährt das Boot als Skipper. Wer noch nie auf einem Schiff war, kann nicht vergleichen. Kennt sich der Skipper aus? In der langen Wartezeit haben sich für viele Vereinsmitglieder die Perspektiven verschoben. Ein Mädchen ist nun doch mit einem Flugzeug nach Südamerika gereist, andere haben ein Studium begonnen, einer ist Vater geworden. Aus dem Migrobirdo-Projekt ist irgendwie Hannes’ Projekt geworden. Während andere sich abwenden, zieht er es durch. Seine Crew sind junge Erwachsene aus verschiedenen Ländern Europas, die für kurze oder längere Reise-Etappen auf der Taube mitfahren. Hannes bewegt eine Sicherheitsmittelfirma dazu, Schwimmwesten zu spenden. Auf seine Initiative hin rollt eines Tages ein Lastwagen vor die Taube und lädt 300 Liter Apfelsaft und Säcke mit roten und weißen Bohnen ab. Alles Spenden. Hannes kann andere Menschen von seinen Ideen begeistern. Die Taube ist ein kleines Segelschiff von acht Metern Länge mit einem wenig erfahrenen Skipper. Aber die kleine Segelyacht hat seit ihrem Ausgangshafen in Kappeln etwa 1800 Seemeilen hinter sich gebracht – durch den englischen Kanal, entlang der französischen Atlantikküste und durch die Biskaya. Dass das Schiff im Januar 2009 in Almería liegt, auf dem Sprung nach Afrika, das ist Hannes’ Verdienst und auch sein Triumph. Es ist der Beweis, dass er das Segeln gelernt hat. Wer noch nie auf einem Schiff war, kann nicht vergleichen. Ist das Schiff sicher? Kennt sich der Skipper aus? Ohne Zögern steigt Tama in Almería auf die Taube. Wenn sich das Boot auf die Seite legt und in den Wellen rollt, wird ihr sofort übel. Nur im Liegen ist der Zustand zu ertragen und so verbringt sie die Segeltage meist im Schiffsrumpf. Während des Segelns nimmt sie sich manchmal vor, bei der nächsten Gelegenheit auszusteigen. Im Hafen angekommen, sobald das flaue Gefühl im Magen nur noch Erinnerung ist, bleibt Tama dann doch. Wegen Veronika und wegen Alex und den anderen. „Für mich war das etwas absolut Neues, diese Art von Gemeinschaft, auf die anderen vertrauen und sich verlassen“, sagt sie. Die Taube ist ein Kosmos. Zu neunt auf einem acht Meter langen Boot zu leben, bedeutet, beim Essen um den runden Tisch immer auf andere angewiesen zu sein: „Kann ich mal meinen Pulli haben?“ oder „Ich hätte auch gerne einen Becher“. Es bedeutet, sich mit sechs anderen über die Musik zu einigen, die gespielt wird und es heisst auch, zu zweit in einer Koje zu schlafen, in der man sich kaum umdrehen kann. Manchmal trägt die Hose, die Tama anziehen will schon jemand anderes. Bei Kerzenlicht werden abends Karten geschrieben. Keine Gefühlsregung hat Tama für sich alleine. Sie will zu sich finden, „bei sich bleiben“, wie sie es ausdrückt. Aber das ist schwierig mit so vielen Menschen um sie herum. An Land macht Tama deshalb oft lange Spaziergänge am Strand. In den Häfen fällt die Taube mit der barfüßigen Besatzung zwischen polierten Yachten und Motorbooten auf. „Ich glaube, dass wir so etwas Verrücktes machten, hat viele an ihre eigenen Träume erinnert“, sagt Tama. Die Leute stellen Fragen und bitten darum, Fotos machen zu dürfen. Auf der Webseite des Vereins Migrobirdo schreibt eine Beobachterin: Ich kann mich noch genau daran erinnern, dass einer von ihnen auf dem Kopf stand und sich entspannte und der andere Geschirr spülte, sie sahen glücklich und frei aus. Was die Crew an Lebensmitteln braucht, wird oft „containert“, das heißt aus Abfallbehältern von Supermärkten herausgesucht. Die Segler finden sich mutig und verwegen, sie nennen sich scherzhaft „Piraten“. – „Ich konnte uns oft nicht so ganz ernst nehmen“, sagt Tama. „Wir waren doch Wohlstandsabenteurer.“ Jeder konnte davon ausgehen, dass die Familie zu Hause ihn aus einer heiklen Situation rausboxen würde. „Wir hatten ja so eine Art Generalversicherung in unserem Rücken“, sagt Tama. „Das hat mir Sicherheit gegeben.“ Ein Foto zeigt nackte Beine, den Schiffshund Milho, viel Fröhlichkeit Es ist Nacht. Die Taube fährt unter geblähten Segeln, unter einem riesigen Vollmond. Still. Friedlich. Spanien liegt im Rücken, voraus leuchten die Lichter Afrikas, die Küste von Marokko. Das ist ein Moment, den Tama für sich gespeichert hat. Einer, in dem sich das, was kommen wird, nicht abzeichnet, in dem alles ist, wie es sein soll. Ein Boot auf dem Weg in den sicheren Hafen, ein Abenteuer, das einen glücklichen Ausgang findet. Marokko ist aufregend und fremd. An der spanischen Küste genoss die Taube eine komfortable Narrenfreiheit. Wenn die kleine Yacht schon im Morgengrauen den Hafen verließ, um keine Liegegebühr zu bezahlen, drückten die Hafenmeister meist ein Auge zu. In Marokko sind die Besatzungsmitglieder der Taube für Einheimische und Hafenbehörden einfach Europäer, die es nicht nötig haben, zu arbeiten. Reiche. In Larache, einer Hafenstadt im Norden von Marokko, besuchen Polizisten mehrmals am Tag das kleine Boot, spähen ins Schiffsinnere und kontrollieren die Pässe. Ein Foto zeigt einen Teil der Besatzung auf einem ausgedienten Schiffsrumpf. Man sieht Mützen und nackte Beine, den Schiffshund Milho, viel Fröhlichkeit. Tama betrachtet in Innsbruck das Bild und sagt, wie wertvoll ihr jedes einzelne Gesicht geworden sei: Veronika und Alex, die direkt nach ihrer Matura aus Tirol aufgebrochen sind, um zu reisen. Armin, 17 Jahre alt und begeistert von diesem unerhörten Abenteuer, in das er hineingeraten ist, weil sein älterer Bruder bei der Renovierung des Schiffes mitgemacht hat. Hannes, der manchmal darüber nachdenkt, das Schiff auf den Kanaren, spätestens in Südamerika zu verlassen, um eine Tischlerausbildung anzufangen. Sören, der immer vom Reisen geträumt hat und seinen Bauernhof in Sachsen-Anhalt in der Obhut eines Freundes lassen musste, um mit seiner dänischen Freundin Sol aufbrechen zu können. Und dann noch Aris aus Slowenien, die immer ihren eigenen Weg ging. Tama und Veronika überlegen, in Marokko auszusteigen. Sie wollen zu zweit und zu Fuß mit einem Esel durch Marokko wandern. Doch bis zum nächsten Hafen, entscheiden sie schließlich, werden sie noch zusammen segeln. Alex verlässt das Boot und macht sich auf den Weg ins Atlasgebirge. Er will weiter südlich wieder zur Bootsbesatzung stoßen. Über die Wetterprognose für die nächsten Tage kann man streiten. Viele Segler bleiben in den Häfen, weil starker Wind angesagt ist. Die marokkanische Atlantikküste, wo sich die Wellen ungebremst am Kontinentalsockel brechen, ist nicht ungefährlich. Der nächste sichere Hafen liegt 100 Seemeilen südlich von Larache, in Mohammedia, nahe der marokkanischen Hauptstadt Rabat. Hannes telefoniert mit Freunden in Deutschland und bespricht die Segelroute. Am Montagabend, dem 19. Januar 2009, verlässt das Schiff gegen 22 Uhr den Hafen. Tama liegt seekrank in der Koje, ruhige Phasen wechseln sich mit heftigem Wind und Seebewegungen ab. Als sie am frühen Morgen kurz an Deck kommt, sitzt Armin alleine am Ruder, das Meer ist spiegelglatt, er sieht müde und glücklich aus. Ein paar Stunden später nehmen Wind und Welle wieder zu. „Kann es etwas Schöneres geben als das hier?“ hört Tama Armin an Deck gegen den Wind anbrüllen. Hilflos sehen die Fischer vom Ufer zu, wie das Schiff sogar auf die Flussmitte zuhält. - Lies weiter auf der nächsten Seite.
Zwanzig Stunden nach dem Auslaufen birgt die Besatzung des Schiffes die Segel und nimmt Kurs auf die Flussmündung des Sebou. Der an der Mündung liegende Fischerort Mehdiya war ursprünglich nicht das Ziel der Reise, Mohammedia liegt etwa 40 Seemeilen weiter südlich.
Über die Gründe für die plötzliche Planänderung kann man nur spekulieren. Nach einer durchwachten Nacht, bei Wellen, die mittlerweile bis zu fünf Meter hoch sind, ist die Versuchung, in den rettenden Hafen zu fahren groß. Die Aussicht auf festen Boden, Ruhe und Schlaf ist verführerisch. Die Verantwortung für ein Schiff bei schwerer See ist eine große Bürde. In einer solchen Situation draußen zu bleiben, obwohl der rettende Hafen nahe scheint, widerspricht dem Bauchgefühl.
Im fruchtbaren Flusstal des Sebou werden Reis und Oliven, Weizen und Wein angebaut. Die Mündung des größten marokkanischen Flusses, der aus dem Atlasgebirge zum Atlantik fließt, ist mehrere hundert Meter breit und von zwei steinernen Wellenbrechern eingefasst. Auf Satellitenaufnahmen ergießt sich der Fluss wie mit einem überdimensionalen blauen Filzstift gezogen in den Atlantik. Es sieht friedlich aus, aber die breite Flussmündung ist alles andere als harmlos. Die Einfahrt ist nur bei ruhigem Wetter oder Ostwind sicher, warnt das Hafenhandbuch. Selbst ortskundige Fischer warten mit dem Einlaufen, beobachten das Wellenmuster und ankern im Zweifel vor dem Strand. Wo Fluss und Meer zusammentreffen, brechen sich die hohen Atlantikwellen, die sich auf dem offenen Meer bei großer Tiefe aufgebaut haben, im flachen Wasser vor der Küste. Für Schiffe sind hohe Wellen ein Risiko, brechende Wellen eine Katastrophe. Bei schwerem Wetter ist darum das offene Meer oft sicherer als der Hafen. Das Hafenhandbuch für Nordafrika empfiehlt auf Seite 55 „gut achteraus Ausschau“ zu halten, „da oft große Brecher einrollen, selbst bei ruhigem Wetter“.
Das Schiff nickt zur Seite. Das Plexiglas gibt nach. Wasser dringt ein.
Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn nicht diese Seite kurz vor dem Einlaufen plötzlich verschwunden wäre. Tama erinnert sich, wie jemand – Hannes oder Sören – die Treppe herunterkam und vergeblich nach der Seite in dem durchweichten Hafenhandbuch suchte. Sie war in dem Durcheinander nicht mehr zu finden, vielleicht herausgerissen, über Bord gegangen, vielleicht zwischen Lebensmittel, Kleidung oder Seekarten gerutscht.
Kurz vor Sonnenuntergang am Dienstag, dem 20. Januar 2009, wird Tama in ihrem Schlafsack unten im Rumpf des Schiffes heftig nach vorne geschleudert. Das Schiff nickt zur Seite. Das Plexiglas in den Bullaugen gibt nach. Wasser dringt in das Boot.
„Get out! Get out!“ ruft jemand und Tama schafft es an Deck. Draußen hört sie jemanden rufen: „Where is Sol?“ und Sören antwortet: „Sie ist hier.“ Tama, vor sich meterhohe Brecher, denkt: „Klar, dass man in so einer Situation kein Englisch mehr spricht.“
Mit der nächsten Welle liegt Tama im salzigen Wasser. Sie schwimmt, es geht um ihr Leben. Neben ihr treibt eine grüne Isomatte, die sie sich unter den Arm klemmt. Die Wellen sind hoch wie ein dreistöckiges Haus. In jeder Welle fürchtet sie, nicht mehr rechtzeitig aufzutauchen, keine Luft mehr zu kriegen. Aber jede Welle hat auch einen Wellenberg, auf dem sich Tama orientieren kann. Sie sieht Land, sieht Fischer, die ihr winken. Sie schwimmt. Sie sieht jemanden, weit entfernt, auf einer anderen Welle, sonst niemanden, sie schwimmt. Sie spürt, wie ihre Kräfte nachlassen, sie hat seit einem Tag nichts mehr getrunken, auch nichts gegessen. Sie schwimmt.
Die Fischer, die Tama aus dem Wasser ziehen, haben das Unglück beobachtet. Sie haben hilflos zugesehen, wie das Schiff die Mündung erreichte, wie es sogar auf die flache Flussmitte zuhielt, statt sich auf der Südseite zu halten, wo bei ruhigem Wetter eine Rinne die Durchfahrt möglich macht. All ihre Sorge lassen sie nun Tama zukommen. Sie wickeln sie in Wolldecken, tragen sie in eine Hütte, zünden den Gasbrenner an und flößen ihr süßen, heißen Minztee ein. Mit nichts als ihrem gelb-weiß gestreiften Unterhemd auf der Haut hat Tama ihr Leben gerettet. Die Wellen haben ihr alle anderen Kleidungsstücke ausgezogen. Sie haben überall auf ihrem Körper blaue Flecken hinterlassen.
In der Hütte, unter den Wolldecken, während sie über sich die Hubschrauber hört, die nach den anderen suchen, hat Tama für einen kurzen Augenblick das Gefühl, zu begreifen. „Ich konnte da sehr nüchtern realisieren, was passiert ist“, sagt sie.
Im Krankenhaus bleiben sechs von sieben Betten leer
Ein Fischer gibt ihr ein Telefon. Ohne nachzudenken wählt sie die Nummer ihres Vaters. Später bringt man sie ins Krankenhaus von Kenitra, der nächsten größeren Stadt. Der Oberarzt schenkt ihr zwei Tüten mit Kleidern, Tüchern und Hausschuhen, die er für sie gekauft hat. Diese erste Zeit ist seltsam friedlich. Tama sieht sich um und zählt die Betten. „Passen wir alle in dieses Zimmer?“, fragt sie sich. Sieben Betten stehen in dem Raum. Sechs werden leer bleiben. Die Wellen geben keinen wieder zurück. Hannes nicht, Sol nicht, Sören nicht, Aris nicht, Armin nicht – Veronika nicht.
Tama malt in ihrer Küche in Innsbruck eine neue Welle, blau und zierlich, wie die Illustration in einem Kinderbuch. „Es wird noch eine ganze Weile dauern, bis ich mit der Wirklichkeit klarkomme“, sagt sie.
Als Tama aus dem Krankenhaus kommt, bietet ihr der deutsche Botschafter eine Unterkunft in seinem Haus an. Im luxuriösen Badezimmer blickt Tama im Spiegel einem Mädchen in die Augen, das sich Monatelang mit anderen die Zahnbürste geteilt hatte.
Sie berichtet und erklärt der Polizei und den Behörden, sie tröstet Eltern, Freunde und Geschwister derer, die immer noch nicht gefunden sind. Sie redet und redet und vermeidet es lange Zeit, sich eine Frage zu stellen:
„Warum habe ich es geschafft und die anderen nicht?“
Vielleicht hat sie eine Nebenströmung erwischt, die sie nicht aufs Meer hinaus, sondern in den Fluss hinein getragen hat.
Vielleicht ist es die Isomatte gewesen.
Vielleicht Glück.
„Erst als Alex endlich kam, habe ich gemerkt, wie einsam ich war“, sagt sie. Alex, der auch zum Schiff gehörte und zum Zeitpunkt des Unglücks im Atlasgebirge wanderte. Er versteht Tama, weil er, wie sie selbst, übrig geblieben ist.
Fünf Wochen nach dem Unglück sitzen Eltern und Geschwister, Freunde und Freundinnen im ersten Stock eines Tübinger Universitätsgebäudes um eine lange Tafel. Sie reden über das Unglück und die Taube. Es wird still im Raum, als Tama ihre Geschichte erzählt. Als könnte in dem Bericht über die letzten Tage auf dem kleinen Boot der Schlüssel zum Verständnis des Unglücks liegen. Auch in der Öffentlichkeit, im Online-Forum der Zeitschrift „Yacht“ oder auf der Seite des Vereins Migrobirdo wird in den Wochen nach dem Unglück diskutiert. Wer trägt die Schuld? War der Skipper gut genug ausgebildet? Hätte man die Besatzung nicht aufhalten sollen? Wieviel Abenteuer darf zum Leben gehören?
Wenn Tama von den anderen spricht, dann behutsam und mit großer Zärtlichkeit. „Ich bin nicht unglücklich ihretwegen“, sagt sie. „Ich glaube, dass es ihnen gut geht, da, wo sie sind. Schwierig ist es für die, die alleine zurückbleiben.“ Tama überlegt, im nächsten Semester mit dem Studium anzufangen. Das Unglück hat ihr Leben verändert und trotzdem sind einige Dinge geblieben, wie sie damals waren, an einem Abend im November 2008, am Strand von Barcelona. Tama ist noch immer auf der Suche.
* Der Name wurde auf Wunsch von der Redaktion geändert.
Text: anke-luebbert - Foto: Susanne Helmert/photocase.de