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Der bayerische König Ludwig II. baute sich mit Schloss Neuschwanstein bei Füssen im Allgäu einen Traum aus Stein, der bis heute weit über 50 Millionen Besucher angezogen hat. Für die meisten Deutschlandreisenden ist ein Ausflug dorthin Pflicht. Mehr als 30 Führer leiten Touristen und Schulklassen durch die Räume, in denen auf großformatigen Wandbildern Sagen aus dem Mittelalter nacherzählt werden. Eine der Führerinnen ist Mandy Bles, 32 Jahre. Die gebürtige Berlinerin arbeitete erst im Café des Schlosses und führt seit vier Jahren die Besucher durch die reich verzierten Räume. Ein Gespräch über Touristen am Limit. jetzt.de: Mandy, was fasziniert die Menschen so sehr an Schloss Neuschwanstein? Mandy: 80 Prozent der Besucher denken vermutlich: ,Das ist berühmt, das muss ich mir mal anschauen.‘ Die kommen völlig blanko her und lassen das Schloss dann auf sich wirken. Es gibt aber auch Familien, die es mit Disneyland verwechseln. Die denken, hier sei Halligalli, bringen ihre Kinder mit und lassen sie wilde Maus spielen. jetzt.de: Lässt du sie? Mandy: Nein, aber ich muss beim Ermahnen sehr vorsichtig sein. jetzt.de: Inwiefern? Mandy: Viele fühlen sich gleich eingeschränkt. Mit einer Mutter hatte ich eine Diskussion. Sie meinte, nur weil sie nun Kinder habe, sehe sie nicht ein, dass sie ihr Leben komplett ändern solle. Ich persönlich bin aber der Meinung, dass man mit den Kindern erst kommen sollte, wenn sie aufnahmefähig sind. jetzt.de: Im Sommer erinnert der Auftrieb vor dem Schloss aber tatsächlich an Disneyland. Wieviele Besucher kommen an guten Tagen? Mandy: Über 8000. jetzt.de: Wie groß sind die Gruppen, die du führst? Mandy: Zur Hochsaison sind es leicht 75 Menschen in einer Führung. jetzt.de: Wow, das ist viel. Mandy: Überleg’ mal: Alle fünf Minuten gehen Führungen rein und im Sommer haben wir „nur“ von 9 bis 18 Uhr geöffnet. Bei nur 60 Leuten je Führung würden wir gar nicht alle unterbringen.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Im Märchenland: Mandy Bles auf Schloss Neuschwanstein. jetzt.de: Wer sind die angenehmsten Gäste? Mandy: Ältere Leute, die richtig zuhören und fragen. Von den Ausländern sind mir die Japaner am Angenehmsten. Die sind humorvoll und folgen dir. Andere Nationen machen eher ihr eigenes Ding. jetzt.de: Wer? Mandy: Die Chinesen. Obwohl die sich mittlerweile gebessert haben. jetzt.de: Was machen die falsch? Mandy: Die halten sich einfach nicht an das Fotografierverbot. Klar kann ich meine Nerven schonen und so tun, als würde ich nur die Hälfte all derer sehen, die trotzdem fotografieren. Aber vorne und hinten laufen die anderen Gruppen. Wenn da ein Führer was durchgehen lässt, muss der andere wieder seine eigene Gruppe zurecht rufen. jetzt.de: Woher rührt das Verbot? Mandy: Eine Erklärung ist, dass das Blitzlicht den Gemälden schadet. Die verblassen dadurch. Die andere Erklärung: Der Freistaat Bayern hat das Vervielfältigungsrecht der Bilder aus Neuschwanstein, zum Beispiel auf Postkarten. Aber für mich als Führer ist es auch unangenehm, wenn keiner Interesse zeigt, weil alle hinter der Linse sind. jetzt.de: Manche Reisende sehen sich Europa in sieben Tagen an und erleben von Deutschland nur Neuschwanstein. Prägst du das Deutschlandbild dieser Menschen? Mandy: Hm. Die haben doch sowieso eine vorgeprägte Meinung: Nach Außen hin sind die Deutschen doch eher so, wie die Bayern sind, oder? jetzt.de: Wie erlebst du die deutschen Besucher? Mandy: Die motzen ganz gern. jetzt.de: Über was? Mandy: Dass es hier zugeht wie am Fließband. Die Leute können nicht nachvollziehen, dass wir den Andrang nicht anders bewältigen können. Aber ich kann die Kritik verstehen. Man wartet mehrere Stunden auf eine halbstündige Führung und dann sind vor und hinter einem nur Menschen. jetzt.de: Dabei erwarten alle einen romantischen Ort, den man gemütlich durchschlendern kann . . . Mandy: Und das geht eben nicht. jetzt.de: Freut es dich noch, wenn du die Leute mit deinen Erklärungen zum Staunen bringst? Mandy: Ja! Weil es so selten vorkommt. jetzt.de: Wieso? Sind die Leute so abgestumpft? Mandy: Hm . . . jetzt.de: Oder ist die Schlossführung nur ein Reiseerlebnis unter vielen? Mandy: Eher das. jetzt.de: Was nehmen die Menschen von dem Rundgang mit dir mit? Mandy: Einfach . . . Eindrücke. Wenn man in das dunkle Schlafzimmer von König Ludwig kommt, lautet der Standardsatz zum Beispiel: „Kein Wunder, dass der depressiv war.“ jetzt.de: Gibt es auch eine Standardfrage? Mandy: „War er schwul?“ jetzt.de: Deine Antwort? Mandy: Es ist durchaus möglich. Aber er war König und streng religiös – wenn er schwul war, dann wird er es schwer gehabt haben. jetzt.de: Folgen die Leute deiner Führung immer aufmerksam? Mandy: Wenn es Sommer und heiß ist, lässt die Aufmerksamkeit ab dem Wohnzimmer nach. jetzt.de: Also nach gut der Hälfte der Führung? Mandy: Ja. Aber mir ginge das wahrscheinlich genauso. Dann muss man halt als Führer ein i-Tüpfelchen draufsetzen.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
jetzt.de: Gibt es denn Schlüsselwörter, die die Leute aufwecken?
Mandy: Während des Zweiten Weltkriegs wurde hier eine Zeitlang Gold gelagert – der „Zweite Weltkrieg“ ist ein gutes Stichwort. Und mit König Ludwigs Todesgeschichte kann man auch jeden wieder wach machen.
jetzt.de: Ermüdet es dich denn, auf die immergleichen Fragen zu antworten?
Mandy: Manchmal passiert es mir, dass ich die Frager gar nicht ausreden lasse und gleich antworte.
jetzt.de: Wie alt war . . .?
Mandy: 40! Wenn man zu Beginn der Führung aufpasst, kriegt man Ludwigs Alter eigentlich schon mit. Die meisten lassen da aber noch das Schloss auf sich wirken. Manchmal stehe ich in der Grotte, die Ludwig nach einer Szene aus dem Tannhäuser von Richard Wagner hat nachbilden und ins Schloss einbauen lassen und sage, dass das alles künstlich gemacht ist. Prompt fragt der Mensch neben mir: „Boah, ist das alles echt?“
jetzt.de: Gehst du manchmal nur für dich durch das Schloss?
Mandy: Ja. Aber nicht so, wie du denkst. Wir führen ja nicht nur, wir putzen auch. Wer um acht Uhr Dienstbeginn hat, wischt Staub und saugt Staub und lüftet.
jetzt.de: Im Sommer wird es stickig.
Mandy: Oh ja! Die Leute bringen ihre Körperwärme mit.
jetzt.de: Und demnach auch ihre . . .
Mandy: . . . Ausdünstungen?
jetzt.de: Die meine ich. Das Schloss war ja eher auf einen Bewohner ausgerichtet – und nicht auf zig Millionen Besucher.
Mandy: Das ergibt noch andere Probleme – mit Leuten, die sich nicht beherrschen können. Es gab schon welche, die einfach mal hier hinter den Vorhang gekackt haben . . .
jetzt.de: Wie bitte?
Mandy: Dass sich jemand mal übergeben muss, ist mir ja noch klar . . .
jetzt.de: Wie meinst du das?
Mandy: Wenn man bei Sommerhitze als Flachländer in die Berge kommt und draußen auf den Einlass wartet, da kann der Kreislauf schon verrückt spielen.
jetzt.de: Aber ihr habt doch Toiletten.
Mandy: Wir haben sogar versteckte Nottoiletten. Aber wenn sich jemand nicht bemerkbar macht, können wir auch nichts unternehmen. Viele sind eben sehr scheu.
jetzt.de: Kann ich denn, wenn ich den Massen ausweichen will, auch eine romantische Zweierführung beantragen?
Mandy: Klar. Letzte Woche hatte ich eine Sonderführung mit Heiratsantrag. Der Mann hatte eine Mail geschrieben – dass er 25 Jahre alt sei und seit neun Jahren mit seiner Freundin zusammen und er würde so gerne und ob das ginge und wie und wo – der war total nervös! Ich habe die Führung übernommen und die beiden unter einem Vorwand alleine gelassen. Dann hat er losgelegt.
jetzt.de: Und?
Mandy: Sie hat „Ja“ gesagt!
jetzt.de: Tauchen die vielen Menschen und das Schloss manchmal in deinem Schlaf auf?
Mandy: Das nicht gerade. Aber der Job lässt mich nicht los. Wenn ich an freien Tagen durch die Füssener Fußgängerzone laufe, muss ich mich beherrschen – weil ich immer kurz davor bin, den Touristen das Fotografieren zu verbieten.
Text: peter-wagner - Fotos: Jürgen Stein