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Sie kennen kein Heimweh
Das Schönste an Deutschland, sagen Mohammed und Najid, sind die vielen Pläne. Fahrplan, Putzplan, Stadtplan. Pläne sind gut. Pläne bedeuten klare Verhältnisse. Alles, was Mohammed und Najid wollen, ist ein geregeltes Leben. Seit vier Monaten hilft ihnen der Stundenplan der Münchner SchlaU-Schule dabei. Jeden Morgen um neun Uhr beginnt der Unterricht. Auf Pünktlichkeit wird Wert gelegt. Manchmal kann es also sein, dass Mohammed und Najid durch die Schillerstraße rennen müssen, um im zweiten Stock eines eher schmucklosen Bürogebäudes das Klassenzimmer vor der Lehrerin zu erreichen. Fragt man die beiden nach ihren Lieblingsfächern, sagen sie: „Alle.“ Mohammed und Najid gehen gerne in die Schule. So gerne, dass sie traurig über den Beginn der Faschingsferien waren. Ginge es nach den Gesetzen des deutschen Staates, hätten die 17-Jährigen das ganze Jahr über Ferien. Mit 16 endet in Deutschland die Schulpflicht. Ein Recht auf Schulbildung existiert für minderjährige Flüchtlinge nicht. Deswegen gibt es in München die SchlaU-Schule. Gegründet hat sie Michael Stenger, der damals als Deutsch-Lehrer und Aktivist im Bayerischen Flüchtlingsrat arbeitete. Am Mittwoch sind seit der Gründung genau zehn Jahre vergangen. SchlaU steht für „schulanaloger Unterricht für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge“. In den sechs Klassenzimmern der Schule bereiten neben Mohammed und Najid 140 elternlose Flüchtlinge zwischen 16 und 20 Jahren ihren Hauptschulabschluss vor. Die Prüfungsergebnisse sind oft besser als der bayerische Durchschnitt. Nur jeder Fünfzehnte fällt durch. Die SchlaU-Schüler lernen neben Deutsch, Mathe, Ethik und Kunst vor allem eines: Wie man den Kopf niemals hängen lässt. Nie wieder Afghanistan Mohammed und Najid kommen aus der westafghanischen Stadt Herat. Dort kannten sie sich nicht. Najid verdiente als Verkäufer nicht mehr als 90 Dollar im Monat. Eines Abends war sein Vater verschwunden. Ein fremder Mann erklärte Najid am Telefon, er solle 100 000 Dollar für dessen Freilassung zahlen. Najid lachte. Er habe das Geld nicht, sagte er. Najid dachte, die Entführung sei ein Spaß. Es war keiner. Najids Vater kam nicht zurück. Mohammed hatte mehr Glück. Er ist das Kind reicher Eltern. Er fuhr Fahrrad, als ihn vier Männer in einen Bus zerrten, ihm den Mund zuhielten und einen Sack über seinen Kopf stülpten. Manche Entführungsopfer verlieren mit jedem Tag, an dem kein Geld gezahlt wird, einen Zehennagel. Oder einen Finger. Dann die Hand. Mohammeds Vater zahlte schnell. Er ist Architekt, er hat Geld. Eine Woche nachdem er Mohammed wieder bei sich hatte, bezahlte er 3 500 Euro an einen Schleuser. Sein Sohn sollte ins Ausland, er sollte in Frieden gelassen werden. Leute hatten erzählt, in Deutschland gäbe es Sicherheit. Auf einem großen Schiff, versicherte er, würde Mohammed in die Sicherheit fahren, nach Deutschland. Mohammed glaubte ihm. Seine Mutter brach schon drei Tage vor seinem Aufbruch in Tränen aus.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Mohammed will später zum Film, Najid vielleicht Graphiker werden. Da Schlepperbanden Nachzahlungen verlangen oder ihre Familie in Afghanistan erpressen könnten, wollen sie nicht erkannt werden.
Letzten Februar kamen die zwei 17-jährigen Afghanen nach Deutschland. Der eine halb erfroren im Kofferraum eines Autos. Der andere zusammengekauert unter der Plane eines Lastwagens. Zwei oder drei Monate Flucht, bewegungsloses Kauern in Lastwagen, tagelanges Warten in türkischen Ställen lagen hinter ihnen. Mohammed erzählt von Situationen, in denen er bei jedem Schritt „Gott hilf mir“ stumm durch seine Lippen presste. Als er mit seinem Gepäck auf dem Kopf bis zum Hals im Schlamm steckte. Als er mit Plastiktüten das Wasser aus einem kleinen Schlauchboot schaufelte. Wenn er beschreibt, wie nah er dem Tod war, hält sich Mohammed die rechte Hand direkt vor das Gesicht. Ihr Bild wollen Mohammed und Najid auch deshalb nicht in der Zeitung veröffentlichen, weil es weitere Erpressungsversuche zur Folge haben oder Probleme für die Verwandten in der Heimat bedeuten könnte.
Deutschland hat auf Mohammed und Najid nicht gewartet. Der Taxifahrer, der Mohammed irgendwo am Rande einer deutschen Landstraße aufgabelte, fuhr ihn direkt zu dem trostlosen Gebäude in der Baierbrunnerstraße. Die Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge im Süden von München. Auch Najid kam vor einem Jahr hier an. „Es war es ein Schock“, sagt Mohammed. Uringestank im Treppenhaus, Dreck in den Gängen, vergammelte Essensreste in der Küche. Irgendwo hier liefen sich Mohammed und Najid über den Weg. Sie wurden Freunde. Wohnten in Sechserzimmern mit Stockbett und Metallschrank. Ein halbes Jahr lang demütigende Verhältnisse. Ein halbes Jahr lang Warteschleife.
Heute wohnt Najid in einem städtischen Waisenhaus, Mohammed in einem Jugend-Wohnhaus der Arbeiterwohlfahrt. Ihr Asylverfahren läuft noch. Nur gut die Hälfte der minderjährigen Flüchtlinge bekommt eine befristete Aufenthaltsgenehmigung. Die anderen eine maximal sechsmonatige Duldung, die verlängert werden kann. Natürlich könnten Mohammed und Najid auch mit einer Duldung in Deutschland bleiben. Vorerst zumindest. Seit zwei Wochen bezeichnet die Bundesregierung das Geschehen in Afghanistan als „bewaffneten Konflikt“ und meint: Krieg. Abschiebungen ins Kriegsgebiet sind selten, aber Einzelfälle gibt es immer wieder.
Najid will afghanischen Boden nie mehr betreten. „Immer traurig, immer Stress, immer Gefahr,“ sagt er über die Vergangenheit. Nach 30 Jahren Krieg in Afghanistan, glaube er nicht an Frieden. Das Wort „Heimweh“ kennt er nicht.
Michael Stenger weiß, dass er und sein Team manchmal auch Ersatzvater und Ersatzmutter spielen müssen. Die Rolle fällt ihm nicht schwer. Seine Stimme scheint in den Gängen der Schule überall gleichzeitig hörbar zu sein. Er ist Papa und Patriarch. Einer, der mit seinen Späßen die Schüler zu herzhaftem Lachen provoziert. Einer, der im nächsten Moment den Zeigefinger ausstreckt und mahnt: „Habt ihr die Hausaufgaben auch alle gemacht?“
Die zwei SchlaU-Schüler sagen über ihren Chef: „Michael ist sehr gerecht.“ Für Mohammed und Najid verkörpert ihr Schulleiter eine Art ideales Deutschland. Ein Deutschland, in dem belohnt wird, wer gut arbeitet und mit Konsequenzen rechnen muss, wer schlecht arbeitet. Vieles an Deutschland finden sie komisch. Den Mann, der im Park den Haufen seines Hundes mit einer Plastiktüte einsammelt und wegwirft zum Beispiel. Aber auch das deutsche Asylgesetz, das in ihren Augen keinen Sinn zu machen scheint. Sie verstehen nicht, warum Iraker, die unter dem gleichen bewaffneten Konflikt zu leiden haben, eine dreijährige Aufenthaltserlaubnis bekommen. Und sie, wenn sie Pech haben, nur eine Duldung. Dabei schreiben Mohammed und Najid in allen Fächern Einsen und haben auf ihrem Zeugnis zwei lachende Smilies als Maximalwert für gute Mitarbeit und vorbildhaftes Betragen im Unterricht.
„Unsere beiden Versicherungsvertreter“
Die jungen Flüchtlinge werden in der SchlaU-Schule leistungsbezogen den Klassen eins bis neun zugeteilt. Najid und Mohammed haben innerhalb von vier Monaten zwei Klassen übersprungen. Nach den Faschingsferien kommen sie in die siebte. Sie sind zwei emsige und motivierte Schüler. Und damit keine Ausnahme, sagt Schulleiter Michael Stenger. Als ihm Mohammed und Najid stolz ihr Halbjahreszeugnis zeigen, umarmt er sie herzlich bevor er zum Seitenhieb ansetzt: „Unsere kleinen Versicherungsvertreter“, sagt er lachend. Mohammed und Najid legen viel Wert auf ihre Kleidung. Gutes Aussehen ist ihnen fast so wichtig wie die guten Noten. Mohammed trägt ein gestreiftes Hemd, Najid Röhrenjeans und spitz zulaufende Adidas-Schuhe.
40 Euro Taschengeld bekommen Mohammed und Najid jeden Monat, zuzüglich Geld für Kleidung und Essen. Es ist insgesamt weniger als der Hartz-IV-Satz. Einmal war Najid letztes Jahr im Kino. Abends weggehen: unmöglich. „Wir machen jetzt zusammen Party“, sagen sie nach der Verleihung der Halbjahreszeugnisse und meinen: Sie gehen nach Hause und kochen gemeinsam.
200 Jugendliche bewarben sich im letzten Jahr auf 40 Anfänger-Plätze an der SchlaU-Schule. Der Bedarf erklärt sich aus dem nicht vorhandenen staatlichen Angebot. Schulleiter Michael Stenger ärgert das. „Diese Leute hier haben ein ungeheures Potenzial“, sagt er. Mit seiner Arbeit will er vor allem eines beweisen: Jugendliche Ausländer sind keine Problemfälle. Sie werden dazu gemacht – wenn man sich nicht um sie kümmert.
Ein „Schutzraum“ soll seine Schule sein. Und tatsächlich sehen die Räume mit ihren grauen Linoleumböden, die Wände mit ihren Fotocollagen auf buntem Tonpapier, die Ecken mit den vertrockneten Topfpflanzen und die Tische mit den gelb angelaufene Computerbildschirmen darauf nach ganz normalem Schulalltag aus. In den Kalender an der Klassenzimmer-Pinnwand haben Schüler für Dienstag den „Erotiktag“ gekritzelt. Eigentlich also auch eine ganz normale Klasse.
Ein deutscher Plan
Wenn da nicht dieses Kopfweh wäre. Das Kopfweh der familiären Entwurzelung, das erdrückende Gefühl von Heimatlosigkeit, das viele der Schüler regelmäßig überfällt. Die meisten der SchlaU-Schüler kommen aus Kriegsgebieten wie Afghanistan oder dem Irak. Manche waren in Afrika Kindersoldaten, andere flohen vor Beschneidung oder religiöser Verfolgung. Oft sind es auch die Erlebnisse auf der Flucht, die viele der SchlaU-Schüler traumatisiert haben. Der tägliche Lernstoff in der Schule hilft, die schlimmen Gedanken für ein paar Stunden abzuschalten.
Mohammed kann es kaum erwarten, endlich eine Ausbildung anzufangen. Er will zum Film. Als Cutter oder Kameramann. Najid ist nachdenklicher: „Ich weiß noch nicht, was ich werden will“, sagt er vorsichtig. Sein Freund Mohammed weiß es: „Najid kann zeichnen. Er wird Grafiker werden.“ Aber so leicht ist es nicht. Wer als Flüchtling nur eine Duldung besitzt, muss mindestens ein Jahr warten, bevor er eine Ausbildungsstelle antreten darf. Außerdem muss er der Arbeitsagentur beweisen, dass er keinem Deutschen den Platz wegschnappt. Nachrangigkeitsprinzip nennt sich das. Als erfolgreicher SchlaU-Absolvent gilt, wer heute als Schichtleiter bei „Burger King“ arbeitet, wer die Aufnahme an eine Kosmetikschule geschafft hat oder die Gesellenprüfung zum Glaser besteht. Die ganz große Ausnahme ist eine Absolventin, die heute Zahntechnik studiert.
Trotzdem: Mohammed will sich nach oben beißen. Gerade sucht er nach einem Praktikum bei einem Fotografen oder einer Filmproduktionsfirma. Diese Woche stellt er sich bei der Bavaria vor. Sein Deutsch ist noch lange nicht perfekt. Wenn er aber gefragt wird, wo er sich in zehn Jahren sieht, antwortet Mohammed fehlerlos: „Ich will ein normales Leben führen. Ich will einen Beruf, ein Haus, eine Frau.“ Najid ergänzt: „Und ein Auto.“ Kein einfacher Plan. Aber ein ziemlich deutscher.
Text: anna-kistner - Foto: Juri Gottschall