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Es gibt schreckliche Wörter, Wörter, die unsere Welt und das menschliche Tun und Lassen im allerübelsten Schummerlicht erscheinen lassen. Ein besonders schreckliches ist - ich möchte mich kurz schütteln, bevor ich es aufschreibe - "Resteficken". Dieses Wort verwenden vermutlich die gleichen Leute, die um die Jahrtausendwende herum extensiv das Wort "Warmduscher"" benutzt haben und nun angeblich Feste von Über 30-Jährigen als "Gammelfleischpartys" bezeichnen. Zumindest ist das in der vergangenen Woche zum Jugendwort des Jahres 2008 geworden, aber diese seltsame Auszeichnung ist eine andere Geschichte. Der Schauspieler Robert Stadlober hat die Benutzer solcher Wörter einmal sehr treffend charakterisiert: Es seien die Leute, die bei TV Total im Publikum sitzen. Gebildete, aber nicht sehr gebildete junge Frauen und Männer, die den allgegenwärtigen gesellschaftlichen Befehl vernommen haben, dass jeder immer besser sein und werden muss, und denen nur eine Antwort darauf eingefallen ist: Sie haben Auslachen zu ihrer Lieblingsfreizeitsportart gemacht, direkt nach Fitnessstudio und Squash. Man muss davon ausgehen, dass diesen Leuten als Kindern ein minderschweres Unglück zugestoßen ist. Vielleicht ist ihnen einmal auf dem Nachhauseweg ihr Gameboy oder ihr Fußballbildersammelalbum in den Gulli gefallen und niemand wollte ihnen helfen, es wieder rauszuholen. Das Erlebnis muss sie jedenfalls zu zynischen, verbitterten Menschen gemacht haben, die nicht mehr bereit sind, irgendetwas willkommen zu heißen, das nichts mit Leistungsprinzip zu tun hat. Das Schöne am Makel Für die vom Glück Beschienenen, die noch nie mit dem Wort "Reste . . . " zu tun hatten, hier eine kurze Erklärung: Es ist semantisch nicht ganz eindeutig. Meist wird damit gar nicht die sexuelle Tätigkeit an sich beschrieben, sondern das Davor, das Aufeinandertreffen und Mitnachhausenehmen von übriggebliebenen Menschen zu sehr später Stunde, ungefähr so gegen vier oder fünf Uhr morgens. Und Leute, die bei Stefan Raab im Publikum sitzen, gehen davon aus, dass sich auf jeder Party ab einem bestimmten Zeitpunkt ein Bodensatz bildet, bestehend aus makelbehafteten Nachtmenschen, die mal wieder den Absprung nicht geschafft haben. Zu denen gesellt sich dann ein uneingeladener Gast namens Hysterie. Die veranlasst die Übriggebliebenen und Einsamen, die bisher niemanden abbekommen haben, ihre gesunkenen Ansprüche fallen zu lassen und mitzunehmen, was sie kriegen können. Zum Beispiel das eine Mädchen mit den wirklich albernen Applikationen auf der Jeans. Oder den Jungen ohne Kinn, der die ganze Zeit nur über analytische Philosophie geredet hat. So ungefähr beschreiben Zyniker voller Klischeedurst die entsprechende Situation. Und liegen damit falsch. Gibt es denn nicht auch einen Zauber des Übriggebliebenseins? Einmal übrig geblieben zu sein, ist das nicht eines der ganz besonders schönen Events zwischen Kreißsaal und Aussegnungshalle? Man denke nur an die zufrieden-melancholischen Männer, die morgens um fünf aus ihrer Eckkneipe torkeln und durch die Butzenscheiben noch einmal andächtig hineinblicken; oder an den von vielen geschätzten Blick auf ein großes Bürohaus, in dem nur noch hinter einem Fenster Licht brennt, ganz oben irgendwo. Da muss ein armer Arbeitnehmer noch rackern zu später Stunde, aber dass er übrig geblieben ist und so ganz als Letzter aus seinem Fenster herausleuchtet wie ein einsamer Leuchtturmwärter, das gefällt ihm trotzdem. Er ist jetzt König in seiner Burg und kann im Flur Bürostuhlrennen veranstalten.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Auch die drei Jungs aus der Parallelklasse, die bei der Wahl der Fußballmannschaften immer auf der Turnhallenbank übriggeblieben sind - man dachte immer, das müsse schlimm gewesen sein für sie, aber eigentlich besiegelten sie auf der Bank Freundschaften, die jeder Fußballkameradschaft überlegen waren. Das Übriggebliebensein ist manchmal nicht so furchtbar. Eine kluge Frau hat einmal gesagt, Geduld, auf die es beim Übrigbleiben ja irgendwie ankomme, sei auch eine Tugend, in die man sich verlieben könne - wenn auch keine sehr glamouröse. Und es ist doch auch so: Gustav Gans zu sein, der um ein Uhr die Ballkönigin mit nach Hause nimmt, muss in etwa so langweilig sein wie ein Tennisspiel gegen jemanden ohne Arme. Morgens um fünf hingegen noch den Tie Break für sich zu entscheiden und jemanden zu finden, die letzte Minute nach langem und beharrlichem Warten zu nutzen, sie auszukosten - das ist pures Glück, wie es ein TV Total-Zuschauer nicht kennt. Manche Lebensentwürfe sind eben ausgelegt auf ein dramatisches Finale. Manche Leute bekommen erst die allerletzte Wohnung, die sie sich nach einer Woche voller nervenzehrender Besichtungen ansehen. Manche bekommen erst dann einen Job, wenn sie schon gar nicht mehr daran geglaubt haben. Warum sollten wir die Liebe unseres Lebens nicht auch finden, nachdem die meisten schon lange nach Hause gegangen sind? Dieses schreckliche Wort vom "Reste . . ." muss unbedingt im neuen Jahr durch ein schöneres ersetzt werden. Welche bieten sich an? Man könnte das bürokratisch-studentische Vokabular heranziehen und von einem "Nachrückverfahren" sprechen. "Jenny und Christian haben sich im Nachrückverfahren kennengelernt", würde man dann sagen. Das klänge gut. Aber es gibt vielleicht noch einen besseren Vorschlag. Durch das Gesamtwerk der kanadischen Band The Weakerthans zieht sich das Motiv des Übriggebliebenseins wie ein roter Faden. Kein Wunder also, dass sie auch eine Formulierung parat haben, die der Schönheit des Gegenstandes angemessen ist: "Last Call for Happiness!" Noch eine Runde Glück. Um zügige Umsetzung dieses Vorschlags wird gebeten.

Text: lars-weisbrod - Foto: photocase.de/gschpaenli

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