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"Man erschrickt rückwirkend vor sich selbst"

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jetzt.de: Lars, es heißt, du wärst schon früher als Kind gerne nackt ins Wohnzimmer gerannt und hättest so deine Familie erschrecken wollen. Lars: Wenn meine Eltern gedacht hätten: "Süß, jetzt hat er so eine nudistische Ader!", dann hätte das keinen Spaß gebracht. Aber für meine Eltern war das ein Schocker - und daran kann man sich natürlich erfreuen! Deswegen bin ich auch kein Freund von Saunas: Da wundert sich ja keiner, dass ich da nackt reingehe. Mir würde es mehr Spaß machen, im Skianzug in die Sauna zu gehen! jetzt.de: Was ist so toll daran, sich vor anderen auszuziehen? Lars: Toll ist daran erst mal gar nichts. Ich ziehe mich nicht gerne vor Leuten aus. Und in dem Moment, in dem sich jemand vor Leuten auszieht, der damit kein Problem hat, wird es uninteressant. In dem Moment, in dem sich jemand vor Leuten auszieht, der damit ein Riesenproblem hat, ist es auch unerträglich. Aber wenn ich sehe, dass derjenige damit zwar ein Problem hat, es aber trotzdem macht, wird's interessant. Mir jemanden anzugucken, der öffentlich gegen seine Scham ankämpft, finde ich reizvoll. Ich würde nicht sagen, dass ich mich gerne vor Leuten ausziehe, aber dass ich es interessant finde, zu gucken, was passiert, wenn ich mich vor Leuten ausziehe. Ich will das Publikum in gewisser Weise zwingen, sich verhalten zu müssen. Ich will eine Reaktion sehen. In "Ein Sommernachtstraum" war meine Stripszene stückübergreifend. Das Stück erzählt ja von nichts anderem: Man schläft mit dem Esel, wacht am nächsten Tag auf und denkt: ,Was hab ich da eigentlich gestern gemacht!?‘ Man erschrickt rückwirkend vor sich selbst, aber trotzdem weiß man, dass es auch geil war. Bei "Ein Sommernachtstraum" verführen wir das Publikum dazu, bei etwas mitzumachen, von dem es eigentlich dachte, es sei unter seinem Niveau, und wofür es sich später vielleicht sogar schämen könnte. Das Charlottenburger Bildungsbürgertum zu animieren, fünf Minuten nach Stückbeginn rhythmisch zu klatschen, damit ich mich ausziehe, oder mit Frauen aus dem Publikum rumzuknutschen, die sich anschließend wieder neben ihre Ehemänner setzen, ist doch aus Sicht der Zuschauer nichts anderes, als mit einem Esel Sex zu haben. Die gehen nach Hause und denken: ,Was war das denn jetzt gerade?‘ Und trotzdem hat es ihnen Spaß gemacht.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Lars im Hamlet. jetzt.de: Guckst du manchmal vor der Vorstellung in den Saal und freust dich, genau dieses Bildungsbürgertum gleich schocken zu dürfen? Lars: Dadurch, dass die Leute bei "Ein Sommernachtstraum" vorher Bowle bekamen, stiegen sie ja schon locker in das Stück ein. Damit wollten wir sie auf unsere Seite holen. Ich guck' dann aber eher ins Publikum und denk' mir: ,Auweia, ich kann das jetzt nicht machen!‘ Es ist eher eine Überwindung. Aber ohne diese funktioniert's glaube ich auch nicht. Ich freue mich nicht darauf, den Leuten mit dem nackten Arsch ins Gesicht zu springen, sondern habe eher Angst davor. Ich kann nicht dagegen angehen, in dem ich mich klein mache, schäme und wegdrehe, sondern indem ich in die Offensive gehe, und das setzt dann natürlich eine wahnsinnige Energie frei. Da wundere ich mich auch jedes mal wieder über mich selber. Als Lars Eidinger würde ich so was nie machen, aber im Theater habe ich eine Perücke auf und spiele eine Figur. Das erlaubt mir eine viel größere Freiheit. Ich merke, dass ich dann Entscheidungen treffe, die ich sonst nie treffen würde, und zwar aus der Logik der Figur heraus und nicht aus meiner privaten. Das finde ich auch das Faszinierende an der Schauspielerei. Einer Frau aus dem Publikum bin ich mal unter den Rock. Das fand die total scheiße, das habe ich auch gemerkt. Das ist dann fast schizophren, wenn ich in der Rolle Sachen mache, die ich selbst eigentlich nicht mehr okay finde.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Lars im Hemd. jetzt.de: Trinkst du dir vorher manchmal einen an, so zum Mut machen? Lars: Bei "Ein Sommernachtstraum" habe ich teils drei Gläser Bowle vorher getrunken. Aber da muss man vorsichtig sein. Schauspieler sind sehr gefährdet, was Alkoholismus angeht. Wenn man vor der Vorstellung einen Prosecco trinkt und merkt, dass dadurch alles besser läuft, trinkt man natürlich immer einen Prosecco. Ein Jahr später ist man dann bei drei, vier, fünf Gläsern und spielt das Stück im Rausch. Ich habe Alkoholiker-Kollegen, die so angefangen haben. jetzt.de: Was motiviert dich vor der Vorstellung? Lars: Klaus Maria Brandauer hat glaube ich mal gesagt: "Schauspielerei heißt, sich öffentlich zu schämen." Ich habe aber eher das Gefühl, es heißt, öffentlich gegen seine Scham zu kämpfen. Ich will die Scham aus den Leuten, aber auch aus mir selber herauskitzeln. Es geht darum, die Widerstände in sich zu bekämpfen, das finde ich interessant an meinem Beruf. Deswegen widerspreche ich auch jedem, der sagt, das hätte was Exhibitionistisches. Weil der Exhibitionist meiner Meinung nach einfach nur Lust daran hat, sich nackt zu zeigen. Ich habe keine Lust daran - und mach's trotzdem. Es ist ein wahnsinnig intensiver Moment, wenn ich mich vor 350 Leuten ausziehe. Und mal abgesehen von dem Ausziehen: Wenn mir 350 Leute alleine schon zuhören, ist es der totale Kick. Ich glaube, der erste Impuls, Schauspieler zu werden, ist immer diese Sehnsucht nach einer Form von Bestätigung und Aufmerksamkeit. Wenn ich bei "Hamlet" "Sein oder nicht sein" sage, und alle im Publikum hören mir dabei zu, macht mich das total an. Wenn ich in einer Gruppe von Leuten stehe und sage: "Ey, seid mal kurz ruhig!", und alle sind dann ruhig, entsteht eine Konzentration, die anregend ist, aber auch unangenehm. Ich sehe den Reiz darin, dieses Unangenehme zu bekämpfen, daraus eine Lust zu entwickeln. Aber nicht, weil ich eine Rampensau bin, sondern weil ich eine Sehnsucht nach Intensität habe. Dieser ewige Anspruch, dass ich das Jetzt wahrnehmen und irgendwas davon greifen möchte, ist das, was das Leben lebenswert macht.


jetzt.de: Bekommst du deine Rollen bewusst von den Regisseuren zugewiesen oder sind Nackt-Szenen wie die mit der Maske in "Ein Sommernachtstraum" deine eigenen Ideen? Lars: Bei "Ein Sommernachtstraum" haben wir am Anfang improvisiert. Alle waren auf der Bühne, und die Regisseurin Constanza Macras kam zu mir und flüsterte mir ins Ohr, ich solle doch bitte eine Geburtstagsüberraschung für eine andere Schauspielerin spielen. Dann habe ich für sie gestrippt. Die Regisseure fanden das gut und wollten damit sogar das Stück anfangen lassen. Dann habe ich in einer Kaffeepause diese Maske gefunden, die ja eigentlich fürs Gesicht gedacht ist. Ich habe meinen Schwanz durch die Mundöffnung gesteckt, bin zu den anderen an den Tisch und habe mit der Maske gesprochen. Mein Schwanz war die Zunge. Da haben sich alle so drüber gefreut, dass ich dachte, damit meinen Striptease auf der Bühne beenden zu können. So kam die Idee. jetzt.de: Ist es vorgekommen, dass Zuschauer nach einer Vorstellung zu dir gekommen sind und dich gefragt haben, ob du nicht auch mal auf ihrem nächsten Geburtstag blank ziehen könntest? Lars: Nein, würde ich aber auch nie machen. Einmal ist eine Frau, mit der ich auf der Bühne rumgeknutscht habe, nach der Vorstellung zu mir gekommen, und hat mich gefragt: "Was war das jetzt gerade?" Sie dachte, das hätte mehr zu bedeuten, und es könnte ja auch noch weiter gehen. Das gibt es ja auch unter Schauspielern, die eine Kussszene spielen müssen. Die stehen dann danach zusammen am Catering an und der eine sagt: "Entschuldigung, wir müssen mal darüber reden!" Und dann stellen beide fest, dass da gar nichts war. Beide haben sich das nur so gut vorgespielt, dass der jeweils andere dachte, sein Gegenüber investiert echte Gefühle. jetzt.de: Könntest du dir auch Sex auf der Bühne vorstellen? Lars: Das fände ich schon interessant. Das Tolle am Theater ist ja tatsächlich die Unmittelbarkeit. Und was kann unmittelbarer sein, als tatsächlicher Sex? Das reicht ungefähr an ein Kind oder ein Tier auf der Bühne ran. Ein Hunde zum Beispiel kann nicht inszeniert sein, deswegen hast du auch gegen einen Hund keine Chance. Echter Sex kann auch nicht inszeniert sein, weil du die Erektion nicht spielen kannst. Die hast du oder eben nicht. *** LARS EIDINGER Der 32-Jährige spielt seit 1999 im Ensemble der Berliner Schaubühne und ist vor allem in den Inszenierungen von Thomas Ostermeier zu sehen, zurzeit zum Beispiel im "Hamlet". Die professionellen Zuschauer schreiben in ihren Rezensionen unter anderem von der "mächtigen Präsenz", die Eidinger in seinem Spiel ausstrahle.

Text: erik-brandt-hoege - Fotos: oh

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