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Grundkurs lässige Literatur
Sonja ist das Opfer. In jedem ihrer Texte. Als sie ans Mikrofon tritt, sind ihre Wangen rot gefleckt. Mit brüchiger Stimme und schüchternem Blick bekennt sie: „Ja, ich hatte eine schwere Kindheit.“ Dann rezitiert die 18-Jährige Gefahren – und wie Kinder dabei zu Tode kommen. In ihrer Geschichte ist sie die paranoide Tochter eines sicherheitsfanatischen Vaters. Man nimmt ihr die Rolle ab, wie sie da steht, mit dem braven Zopf und der Brille und dem Blatt in der zitternden Hand. „Ich würde gerne mal eine andere Rolle spielen“, sagt sie schüchtern, als die kleine Gruppe vor ihr klatscht. „Warum?“, fragt der Workshop-Leiter. „Solange du damit auf der Bühne Erfolg hast?“ Applaus ist alles Erfolg bedeutet Applaus beim Dichterwettstreit. Das sollen die Nachwuchs-Poeten beim Poetry-Slam-Workshop in der Münchner Schauburg lernen. Wofür man Beifall bekommt, weiß Heiner Lange, der bereits bei den deutschsprachigen Poetry Slam-Meisterschaften 2007 in Berlin im Finale stand. In den letzten drei Jahren ist der 22-jährige Bühnendichter aus Landshut schon über einhundert Mal aufgetreten. Dabei hat er gelernt: „Nur wenn sich das Publikum mit der Geschichte identifizieren kann, hat man Erfolg.“ Und wenn es sich amüsiert. Sonja, die Antiheldin, packt die Zuhörer wegen ihrer Unzulänglichkeit.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Ist ein Text zu speziell, oder zu düster, scheitert er fast immer an der Publikumswertung. Deshalb feilt Heiner mit Sonja und den anderen Workshop-Teilnehmern an Formulierungen und Pointen, gibt Tipps für die richtige Betonung und vermerkt Lacher. „An einer Stelle haben wir nur ein bisschen gelacht“, sagt er zu Sonja, die sich wieder zu den anderen gesetzt hat. „Vielleicht solltest du da konkreter werden.“ Jeden Montagabend treffen sich die potenziellen Poeten in der Schauburg am Elisabethplatz zum Slam-Workshop. Mitmachen können Schülerinnen und Schüler zwischen 14 und 20 Jahren. Während Heiner mit seiner Gruppe im Vorraum des Theaters Prosatexte übt, bespricht Lyrik-Slamerin Pauline Füg im Keller mit ihrer Gruppe Gedichte. Im ersten Stock feilt Rapperin Fiva MC mit ihrer Klasse an den Rhymes. Ebenso wie Heiner Lange sind auch die beiden Workshop-Leiterinnen mehrfach Slam-erprobt und seit Jahren in der Dichtkunst-Szene aktiv und erfolgreich. Weil Poetry Slam nicht fürs Hinterzimmer konzipiert ist, können sich die Nachwuchs-Slamer jeden zweiten Freitag im Monat vor Publikum beweisen. Dort zeigt sich, ob die geübten Texte funktionieren. Sonja hat sich seit Beginn des Workshops schon zwei mal auf die Bühne getraut. „Ich war unglaublich aufgeregt“, erinnert sie die Gymnasiastin. Mindestens zwei Freundinnen braucht sie deshalb vor dem Auftritt: „Eine zum Händchen halten und eine, die aufpasst, dass ich mein Skript nicht vor Aufregung zerknittere.“ Jeder Nachwuchs-Dichter, der beim Workshop mitmacht, soll auf die Bühne, um sich und seine Texte zu präsentieren. Das ist Heiners erklärtes Ziel: „Wer eine Niederlage erlebt, wird im Workshop wieder aufgebaut.“ Danach werden die Gründe analysiert. Wer sich bewährt, dem steht die Münchner Poetry-Slam-Szene offen: Nach dem „kuschelige Wohlfühl-Slam“ in der Schauburg, wie Heiner sagt, kommt der „Bless the Mic“-Slam in der Glockenbachwerkstatt, organisiert von ehemaligen Workshop-Teilnehmern. Darauf folgt die Kiezmeisterschaft im Stragula im Westend und an der Spitze der Münchner Slam-Liga steht der Dichterwettstreit im Substanz. Die Münchner Szene ist überschaubar. Bei den Initiatoren des Substanz-Slams schließt sich der Kreis. Rayl Patzak und Ko Bylanzky, die den Substanz-Slam seit Jahren veranstalten, organisieren auch die kostenlosen Workshops in der Schauburg. Gezüchtete Poetenklone? Hartnäckig hält sich der Vorwurf, solche Workshops züchteten nur Poeten-Klone des Workshop-Leiters, statt frisches Dichterblut hervorzubringen. Heiner Lange kennt das Problem. „Diese Gefahr besteht“, sagt er. Um Nachahmungseffekte zu vermeiden, trägt er keine eigenen Stücke im Workshop vor. Auch bei den Übungen macht er nicht mit. „Wer mich hören möchte, muss zu den Slams kommen“, sagt er zu den Schülern. Sonja hat mit der Opfer-Nummer ihren eigenen Stil gefunden. „Beim Poetry Slam bekommt man schnell mit, ob das gut ist, was man macht“, sagt die Gymnasiastin. Ihren Geschichten des Scheiterns haben sie nun schon zwei Mal auf den dritten Platz gebracht. Mehr über die Workshops gibt auf schauburg.net im Internet