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Freiheit, Gleichheit, Konkurrenz

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Tobias Zisiks Lust zu Arbeiten ist heute ungefähr so groß wie die trockenen Stellen auf seiner Regenjacke. Trotzdem sitzt der Kurier bereits seit zwei Stunden im Sattel und tingelt durch den Nieselregen der Münchner Innenstadt. Zisik, den alle nur Tobi nennen, tropft der Regen von der Stirn, Schlammspritzer kleben auf den rasierten Unterschenkeln, aus den schwarzen Klickschuhen tropft das Spritzwasser der Straße. Der Sommer dieses Jahr ist nass und kalt, und der Kurierfahrer immer im Freien. Unterwegs von Neuhausen nach Schwabing, in die Altstadt, den Lehel, die Ludwigvorstadt und wieder zurück. An Tagen wie diesen wäre Tobi lieber daheim im Bett geblieben. Seit acht Jahren arbeitet Tobi auf seinem Rad. Der 34-Jährige ist jeden Tag etwa 40 Kilometer in der Stadt unterwegs. Fahrradkuriere wie er galten lange Zeit als urbane Idole. Fahrradkuriere waren unfassbar coole Großstädter, frei, ungebunden, schlecht bezahlt aber glücklich. Sie waren pazifistische Rad-Rebellen mit langen Haaren und tätowierten Unterschenkeln. Durchtrainierte, gebräunte, bewunderte Gesetzesbrecher, die bei Rot über die Ampel flitzen und mit dem Rennrad durch den U-Bahnhof schießen, um zehn Sekunden schneller am Ziel zu sein. Unangefochtene Freiheit versprach die Arbeit als Kurier. Den Ausbruch aus einer normierten Arbeitswelt mit ihren steifen Hemdkrägen, geputzten Schühchen und den immergleichen Kollegen in der Kantine.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Ein nasser Großstadtcowboy: Radlkurier Tobias Zisik Noch vor etwa fünf Jahren galten Radlkuriere als unerreichbar hip. Kurzfilme über die sogenannten „Messengers“ in New York kursierten im Netz. Boten mit geschulterten Rädern brachten Pakete in die Büros von Vorabendserien wie „GZSZ“. Die Szenen der lässigen Großstadtcowboys, die durch die Staus brechen, fanden ihren Weg bis in die Werbung. 2003 brachte der Chicagoer Travis Hugh Culley das Buch „Der Fahrradkurier“ auf den Markt. Culley versprühte auf über 300 Seiten jede Menge Adrenalin und ein besserwisserisches „Fahrradfahrer sind die besseren Menschen“-Mantra. Kuriere gab es damals nur sehr wenige, sie waren Außenseiter. „Arme Angestellte“, denkt Tobi heute immer noch. Dann zum Beispiel, wenn er auf dem Radweg an der Nymphenburgerstraße auf das grüne Licht der Ampel wartet und neben sich die Pendler in ihren beheizten Autos starr geradeaus blicken sieht. Büromenschen sind für ihn Gefangene. Daran hat sich nichts geändert. Doch auch die Kurierfahrer haben im Laufe der Jahre immer mehr von ihrer Freiheit eingebüßt. Das Kurierfahren, sagt Tobi, ist heute weniger Ideologie. Es ist einfach ein Job. „Früher waren das wirkliche Freaks.“ Cooler und unvernünftiger seien die Kuriere vor zehn Jahre noch gefahren. Doch der Freakfaktor ist dem Broterwerb gewichen. Heute geht es um Wirtschaftlichkeit, um Rentabilität, ums Überleben. Tobi ist auf dem Weg durch den Regen von einem Allgemeinarzt zum Urologen. Wenigstens die Radwege sind heute wegen des schlechten Wetters leer. Jeden Tag fährt er die gleiche Route: Er holt Blutproben aus Arztpraxen und bringt sie ins Labor. Am nächsten Tag liefert er die Befunde bei den Ärzten ab und packt neue Proben in seinen wasserdichten Rucksack. Schnelligkeit spielt dabei keine Rolle. Die Kunden legen viel mehr Wert auf Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und ordentliches Auftreten. Schließlich sollen die Kuriere nicht das gehobene Ambiente der holzvertäfelten Praxis in der Maximilianstraße stören. Wenn Tobi durch die Barerstraße rast oder sich an wartenden Autos vorbeischlängelt, passiert es nur noch selten, dass er damit Passanten erschreckt. „Früher haben sich die Menschen über uns gewundert“, sagt er. Heute gehören die Radler mit den neonfarbenen Rucksäcken zum Stadtbild. Zehn Kurierdienste gibt es in München. Früher – unter dem Briefmonopol der Post – machten die wenigen Boten das Geschäft unter sich aus. Wer fahren wollte, musste richtig ackern. Dafür verdiente er auch ordentlich, konnte sogar Aufträge ablehnen. Heute gibt es mehr Fahrer als Aufträge und viele private Postdienste, die den Kurieren auf Rollern oder in Kleintransportern Konkurrenz machen. Die Verteilungskämpfe brachten die alternative Lebenswert der Radelboten durcheinander. „Kuriere waren ökologische Sportsheroes“, erinnert sich Tobi. Harte, kernige Typen, die sich durch den Großstadtdschungel kämpften. Es zählten: Schnelligkeit, Schmerzunempfindlichkeit und Selbstständigkeit, draußen sein bei Wind und Wetter. Wer das aushielt, lebte die Ideologie der Radkuriere und verzichtete gerne auf Bausparverträge und Reihenhaushälften mit Garten. Das hohe Berufsrisiko, die Narben und Aufschürfungen von Stürzen und der tägliche Kampf mit den Autofahrern lockten junge Menschen in den Beruf. Es ging um Freiheit, Freizeit und darum, dass sich keiner vorschreiben lassen wollte, wie er zu arbeiten oder zu leben hatte. Ähnliche Ideen verkörpert heute die digitale Bohème. Auch sie erklärt die Freizeitbeschäftigung zur Arbeit, die Ungebundenheit zum Lebensprinzip. Was heute das Programmieren ist, war vor über zehn Jahren das Kurierfahren. Beide Gruppen vertreten das gleiche Mantra: Ein Angestellter ist geknebelt. Bei beiden Gruppen ist die Szene, die Community, der Mittelpunkt des Lebens: Die digitalen Vordenker treffen sich im Netz, in WLAN-Cafés und Social-Media-Clubs. Kuriere lebten in gemeinsamen WGs oder schraubten bis spät in die Nacht in den Radlzentralen. Doch die Gemeinschaft der Messengers ist über die Jahre auseinander gebrochen. Zwar gebe es auch heute das Klischee der Kuriergemeinde noch, sagt Tobi. Das Feierabendbier am Eisbach, das Grillen am Flaucher. Freunde hat er aber vor allem außerhalb der Szene. Durch die steigende Zahl der Fahrer schwand in den vergangenen Jahren der Zusammenhalt. Die technische Entwicklung beschleunigte das Auseinanderleben der Szene. Der Richtfunk sorgte früher gezwungenermaßen für Gemeinschaft. Die Zentrale sendete Auftrage auf einer Frequenz, die jeder mithören konnte. Wer am Nähesten am Auftrag war, bekam den Zuschlag. Ein spielerischer Wettkampf entbrannte um Fahrten, um den Zonenrekord und den höchsten Tagesumsatz. Vor ein paar Jahren stellten die meisten Dienste in München jedoch auf Handys um. Heute radelt jeder für sich selbst. In kleineren Großstädten wie Nürnberg existiert der Richtfunk dagegen noch. Nur einen Kurierdienst gibt es dort in der Stadt und viel weniger Fahrer als in München. Alex ist einer von ihnen. Seine langen, dunkelblonden Haare sind nass vom Regen, er trägt wasserdichte Shorts und ein kurzärmeliges Trikot. Ständig fiepst seine Funke: „Neue Aufträge aus der Dispo“, erklärt er und spielt an seinem Lippenpiercing. Seit einem Jahr fährt der 24-Jährige als Kurier. Er ist gelernter Holzmechaniker. Heute macht er an vier Tagen die Woche Botenfahrten und verdient damit etwas über 1000 Euro im Monat. Nicht viel, doch Alex ist zufrieden. Die Botenfahrer hätten das Stadtbild geprägt, sagt Alex. Die Messengers sind zu modischen Vorbildern geworden: Single-Speed-Räder und wasserdichte Schultertaschen sind heute ein szeniges Accessoire der Großstädter. Fixies, den Bahnradschlitten nachgeahmte Räder ohne Gangschaltung und Bremse, boomen. Alex sagt: „Der Kurierstyle wird massenhaft kopiert.“ Auch in München lebt das Image der Messenger in der Mode weiter. Am Gärtnerplatz lasse sich der Kurierstyle im Sommer besonders gut beobachten, sagt Tobi. Kappen, Kuriertaschen, kurze Bikerhosen und schlanke Räder ohne Gangschaltung. „Fakingers“ nennen die Kurierfahrer ihre Nachahmer, analog zum englischen Messenger. Doch so lange es regnet, bleiben die echten Kuriere am Gärtnerplatz wenigstens unter sich.

Text: florian-paulus-meyer - Foto: Florian Paulus Meyer

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