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Eine ganz normale Schule
„Ihre Augen hatten etwas Starres. . . keine Sehkraft.“ Katharina blinzelt. „Nur die Augen schienen seltsam starr und tot.“ Als die Lehrerin die Zitate aus E.T.A. Hoffmanns „Sandmann“ an die Tafel schreibt, setzt Katharina ihr Monokular ans Auge, blickt durch das kurze schwarze Rohr auf die entfernte Schrift, setzt ab und notiert sich den Satz. Dabei beugt sich die 18-Jährige tief übers Papier, das kinnlange Haar fällt ihr ins Gesicht, die schmalen Brauen sind konzentriert zusammengezogen. Dritte Stunde, Deutsch-Grundkurs der 12. Klasse am Adolf-Weber-Gymnasium in München. Katharina Bösings Sehvermögen ist stark eingeschränkt. „Totale Farbenblindheit“, erklärt sie, „extreme Kurzsichtigkeit und Lichtempfindlichkeit.“ Wenn sie sich an ihren Fensterplatz im Klassenzimmer setzt, zieht sie als erstes die dunklen Gardinen zu, damit das Tageslicht sie nicht blendet, kneift ihre Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, in deren Winkeln sich Lachfältchen kräuseln. „Ich fühle mich wohl hier an der Schule“, sagt sie und dass es ihr eigentlich keine Probleme bereite, dass sie schlechter sieht als die anderen. An der Grundschule sei das noch anders gewesen, insbesondere ihr Bruder, der die gleiche Behinderung hat, sei stark gehänselt wurden. „Aber ein paar gibt es immer, die einen stören“, sagt sie, streicht sich die Haare aus dem Gesicht und lacht unbekümmert, als sei das alles ganz normal. Das System diskriminiert Doch Katharina ist eine Ausnahme: Bundesweit wird nach wie vor der Großteil von Schülern mit körperlichen oder geistigen Behinderungen an speziellen Förderschulen unterrichtet. Nur rund 15 Prozent werden wie Katharina in Regelschulen integriert und das, obwohl Deutschland im Dezember 2008 die UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen unterzeichnet hat, die seit Jahresbeginn wirksam ist. Die Vertragsstaaten sind aufgefordert, „ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslanges Lernen“ für alle Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf zu schaffen, egal, ob sie körperlich, geistig oder lernbehindert sind. Aber im Vergleich zu Großbritannien, Portugal oder den skandinavischen Ländern, wo über 90 Prozent der behinderten Schüler an Regelschulen unterrichtet werden, liege die Bundesrepublik weit zurück, mahnte der Sozialverband Deutschland kürzlich. So erstaunt es nicht, dass der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Bildung, Vernor Muñoz, das deutsche Bildungssystem im vergangenen Jahr auch aufgrund mangelnder Behindertenintegration als „selektiv, diskriminierend und ungerecht“ kritisierte. Zahlreiche Behindertenverbände setzen sich nun für die Umsetzung der UN-Konvention ein, erste Klagen betroffener Eltern laufen bereits. Doch Uneinigkeit herrscht nicht nur darüber, wie Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf am besten betreut werden – alleine der Begriff der Integration ist umstritten. Denn dieser impliziere, dass etwas „Fremdes“ integriert werden müsse, bemängeln die Verbände und sprechen sich deshalb für eine inklusive Pädagogik aus, in der die Schule von Anfang an als eine Gemeinschaft mit den ihr eigenen Differenzen und Besonderheiten verstanden wird. Die Kultusministerkonferenz hat derweil eine Arbeitsgruppe einberufen, die über die Umsetzbarkeit berät. Als sozialintegrativ bezeichnet Wolfgang Aigner das Münchner Adolf-Weber-Gymnasium, in dem er seit 1981 für die Belange der behinderten Schüler zuständig ist. „Wir haben unsere behinderten Schüler nie als Störfaktor gesehen, sondern einfach als Schüler mit besonderen Bedürfnissen. Wir haben sie bewusst aus der sozialen Isolierung im „Blinden-Ghetto“ herausgelöst“, sagt er. Was 1979 als Modellentwurf begann, ist mittlerweile Alltag in Neuhausen. Neben Katharina Bösing bereiten sich derzeit drei blinde und sechs sehbehinderte Schüler, sowie anderweitig körperbehinderte Kinder auf das Abitur vor. Die meisten wechseln zur 10. Klasse vom Blindenzentrum Unterschleißheim aufs Gymnasium, seit einigen Jahren nimmt die Schule aber auch Fünftklässler auf. „Das funktioniert, weil unser Gebäude barrierefrei ist und unsere Lehrer entsprechend sensibilisiert sind“, erklärt Schuldirektor Hermann Aulinger. Der Versuch, auch hörgeschädigte Schüler aufzunehmen, habe sich als schwierig erwiesen. Denn wo bei blinden Kindern verstärkt auf verbalen Unterricht gesetzt wird, muss für Schwerhörige mehr visualisiert werden. „Das lässt sich schwer vereinbaren.“
In einigen Fächern ist eine Trennung der behinderten Schüler von der Klasse auch unvermeidlich. So gibt es einen gesonderten Sportunterricht und statt üblichem Kunstunterricht setzt man auf Alternativen wie Töpfern oder Speckstein-Schleifen. Außerdem müsse für die Schüler der so genannte Nachteilsausgleich beantragt werden, der ihnen etwa eine verlängerte Schreibzeit bei Klausuren einräumt. Dass die Qualität des Gesamtunterrichts unter der Sonderförderung nicht leidet, ist mittlerweile aber auch von Elternseite akzeptiert. „In den ersten Jahren hatten einige Eltern von sehenden Kindern noch Angst, dass ihre Kinder hier weniger mitbekommen würden“, erinnert sich Wolfgang Aigner. „Das Gegenteil ist der Fall, weil der Unterricht hier sorgfältiger vorbereitet werden muss.“
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Was blindengerechter Unterricht in der Praxis bedeutet, führt Jürgen Reiser in der neunten Klasse vor. Er unterrichtet Wirtschaftsinformatik und als er das Klassenzimmer betritt, geht er als erstes zum Tisch von Maxi und reicht der blinden Schülerin einen USB-Stick mit den Unterrichts-Inhalten. Wenn er Sätze an die Tafel schreibt, dann ruft er laut „Maxi, du findest das Beispiel in deiner Datei im dritten Absatz“ oder „ich maile dir die Hausaufgabe nachher zu.“ Maxi sitzt in der ersten Reihe, Fensterplatz. Während ihre Mitschüler Buchungen rechnen und Beispiele mit bunten Markern farbig markieren, fliegen ihre Finger über die Tastatur des Laptops. Auf der angebauten Braille-Zeile heben und senken sich die Pünktchen der Blindenschrift unter ihren Fingerkuppen – die 15-Jährige liest mit geschlossenen Augen. Manchmal wandern die Finger beider Hände an einem Punkt zusammen, gleiten hin und her und trommeln auf der Stelle, als wäre ein Wort schwer zu lesen. Dann geht es weiter die Zeile entlang, Maxi meldet sich und sagt: „Die Mehrwertsteuer beträgt 1330 Euro.“ Sie sei eine der besten Schülerinnen in der Klasse, sagt Jürgen Reiser später über Maxi. Und sie habe sogar schon eine Stufe übersprungen. An der Blindenschule in Unterschleißheim hätte sie maximal die mittlere Reife machen können, ein Blindengymnasium gibt es nur im hessischen Marburg. Wenn Maxi in einigen Jahren ihre Abiturprüfungen ablegt, dann gehört sie damit zu zwei von 1000 behinderten Schülern, die nach Angaben des Sozialverbandes den höchsten Schulabschluss erreichen. Jürgen Reiser bereitet die Arbeitsblätter für seine blinden Schüler selbst vor, den Mehraufwand nimmt er gerne in Kauf. Nur das Übertragen von mathematischen Aufgaben in die Code-Schrift LaTex erfordere eine gewisse Übung. Unterstützt wird er dabei vom schulischen Servicecenter, das sich mit drei Mitarbeitern alleine den Belangen der blinden und sehbehinderten Gymnasiasten widmet. „Unsere Aufgabe ist schwerpunktmäßig, Bücher und andere Arbeitsmaterialien blindengerecht aufzuarbeiten“, sagt Sabine Hoffmann, die seit 23 Jahren am Weber-Gymnasium arbeitet. „Als blinder Mensch kann ich gut beurteilen, was geht und was nicht.“ Gemeinsam mit einer sehenden Kollegin scannt sie sämtliche Lehrbücher, formuliert bildliche Darstellungen in Texte oder erstellt taktile Skizzen. Probleme in der Unterstufe Wenn Maxi morgens zur Schule kommt, dann wippt vor ihren Füßen der Blindenstock auf und ab, hin und her. Aufmerksamkeit erregt sie damit nicht, auch nicht, als sie versehentlich in die falsche Richtung läuft. Mit leisem Klingeln schlägt der Stock am Metallzaun an, Strebe für Strebe kloing-kloing-kloing und dann steht Maxi vor einer Wand. Sie dreht um, geht am Zaun entlang zurück und durch das Tor hindurch in die Schule. Sie hat gelernt, sich zu orientieren und lässt sich durch kleine Fehler nicht aus der Ruhe bringen. Doch für jüngere Schüler ist das mangelnde Orientierungsvermögen an der Regelschule oftmals problematisch. „Gerade in der Unterstufe werden Schüler oft einfach in der Klasse vergessen, wenn es zur Pause läutet“, erzählt Wolfgang Aigner. „Wir versuchen die Schüler dafür zu sensibilisieren, aber wir können nicht immer völlig kompensieren, was Zuhause schief läuft.“ Dennoch bleibt der Eindruck, dass die Selbstverständlichkeit im Umgang mit behinderten Schülern am Adolf-Weber-Gymnasium zum Alltag gehört. Wenn eine der Schülerinnen ein Verlängerungskabel für den Laptop braucht, dann geht eine Freundin mit, um es zu holen. Und Zwölftlässlerin Katharina zuckt nur mit den Schultern und lacht, als sie gefragt wird, ob sie sich gut integriert fühle. Dann steht sie auf, läuft mit sicherem Schritt quer durch die Klasse, setzt sich wieder zu ihren Freunden und unterhält sich, bis der Unterricht anfängt. Wie man es eben so macht als Schüler an einer ganz normalen Schule.