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"Du musst wissen, wann es Zeit für dich ist, zu gehen"

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Kathmandu, Nepal. Eine Dachterrassen-Bar, kniehohe Tische und lila Sitzkissen mit Spiegelpailletten, leicht verschlissen. Die warme Abendluft füllen der süß-würzige Geruch verbrennenden Haschischs und die treibende Musik einer nepalesischen Ska-Rock-Reggae-Blues-Band. Hier begegnen mir Ulli und Auroville. Ulli tanzt. Ihm steht der Schweiß in den dunkelblonden Locken. Er wirbelt mit den Armen, schüttelt sich, greift nach irgendetwas in der Luft. Als er sich setzt, spreche ihn an. Er stammt aus Chemnitz und sei, so sagt er es in seinem sächsischen Dialekt, "Sru. Dursch. Frei." Er habe es geschafft, verkündet er mit feuchter Aussprache. Mitten in einem erfolgreichen Leben als Bauingenieur, mit zwei Kindern und Doppelhaushälfte am Stadtrand, habe er gemerkt, dass das nicht das Wahre sei, er habe sich "över und aut" gesagt und sei mit seinem Leichtfahrrad nach Indien gefahren. Ulli legt mir die Hand auf die Schulter und sagt: "Du musst wissen, wann es Zeit für dich ist, zu gehen. Und dann weg!" Superenergetische Menschen Er heiße jetzt Prushina und sei ein Rebell, ein Kämpfer mit den Waffen der Liebe. Die Liebe sei auf einem großen Siegeszug durch die Welt. "Warum?", werfe ich kurz ein und: Woher er das wisse? "Woher, woher, Mann", ich sei so bürgerlich. Die Erleuchtung finde man in den Worten Oshos. Bald werde er mit seinem Rad wieder in seine Kommune fahren, "Auroville". Dort sei die Welt besser. "Superenergetische Menschen", sagt Ulli, "alle gleich, alle frei, alle Menschen." Er hält eine flammende Rede und ich beteuere, mir die Kommune ansehen zu wollen. Unterwegs nach Auroville erfahre ich erste Beschreibungen. Auroville sei ein Raumschiff, sagt einer. "Randvoll mit Ausserirdischen." Die Stadt Pondicherry liegt im Südosten Indiens, nur 20 Kilometer von Auroville entfernt. Hier lerne ich in einem Café Peter kennen, der mir anbietet, mich in einem Pickup hinüber zu fahren. Während der Fahrt muss er sich immer wieder zurückhalten - soviel hätte er über diesen Ort zu erzählen. Doch er lässt es bleiben. "Mach dir selber ein Bild", sagt er. "Du hast so einen Ort noch nie gesehen." Auroville bedeutet "Stadt der Morgenröte". Europäer treiben ihre Mopeds knatternd über die Sandpisten und hinterlassen rot-graue Staubwolken. Der Staub schmeckt leicht bitter, wenn er sich auf die Zunge setzt. Vor 40 Jahren war hier nur Wüste, dann wurde daraus das Aussteigerparadies: Es sollte eine "universelle Stadt" entstehen, die niemandem gehört, die der ganzen Menschheit gehört. Ein Ort ohne Regeln, ohne Miete, kein Anführer, keine vorgeschriebene Religion, steuerfrei, subventioniert von Indien und anerkannt und unterstützt sogar von der UN. Es war die Eine-Welt-Vision der 1973 gestorbenen Französin Mirra Alfassa, die hier noch heute alle nur "The Mother" nennen. Jetzt liegt sie vor mir, die gebaute Utopie, 25 Quadratkilometer, 1800 Einwohner, irgendwann sollen hier 50 000 Menschen wohnen. Das meiste Land ist vier Jahrzehnte nach der Gründung bewaldet und man findet verschiedene Wohnstätten - von palmwedelgedeckten Holzhütten bis hin zu europäisch anmutenden Prachtvillen mit Säulen. Sie liegen verstreut, mit jeweils hunderten Metern Abstand zur nächsten Behausung. Mehr Informationen als die aus den Broschüren und den Infovideos im Besucherzentrum sind schwierig zu erlangen. Einige Aurovillianer sollen sehr reich sein und ihre Firmen außerhalb von Auroville angemeldet haben - damit sie nicht so viel an die Gemeinschaft abgeben müssen. Es gibt Gerüchte über Fälle von Pädophilie, die so viele sektenähnliche Gemeinschaften umgeben.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

"Auroville wird Ort ständigen Fortschritts und einer Jugend sein, die niemals altert": So steht es neben anderen Sätzen in der Charta von Auroville geschrieben. IM Bild: Das Zentrum der Stadt, Matrimandir. Wortlos fährt mich Peter über's Gelände. Sandwege, einzelne Palmen, Reihen frisch aufgeforsteter Palmyrah-Bäume. Die Einwohner stellen die meisten Waren ihres Bedarfs selbst her und verkaufen Kleidung, Schmuck oder Obst an die Touristen und gut begüterte Inder. Einzige Bedingung, die an ihr Leben hier geknüpft ist: Sie müssen dem "göttlichen Bewusstsein" dienen. Der "Charta" von Auroville zufolge ist die Stadt der Platz "materieller und spiritueller Forschung für eine lebendige Verkörperung einer wirklichen menschlichen Einheit". Im Zentrum: das "Matrimandir", was soviel heißt wie "Tempel der Mutter".


Mit offen klaffendem Mund schreite ich staunend darauf zu, bis zum verschlossenen Zaun. Jetzt weiß ich, was es mit dem Raumschiff auf sich hat. Es ist ein riesiges Kugelgebäude, mit tonrotem Steinkachelfundament. Die Kugel selbst ist mit vergoldeten Platten übersät. Es wirkt halb wie eine Weltraumstation, halb wie ein gigantischer Golfball und sehr wie eine totalitäre Architekturutopie. Peter erklärt mir, dass die Kugel ein Loch im Dach habe, dadurch falle Licht in den in Marmor gekleideten Innenraum auf einen der größten Kristalle der Welt, der 70 Zentimeter Durchmesser habe und das Sonnenlicht zersprengselnd spiegele. Alle Bedienungen, Wachmänner, Reinigungskräfte und Forstarbeiter an diesem Ort scheinen Inder zu sein, doch sie wohnen nicht hier. Zwar können angeblich Menschen aller Nationen Aurovillianer werden, aber ich treffe fast nur Deutsche, Franzosen und Amerikaner. Vielleicht liegt es an den Grundstückspreisen, die sehr teuer sind. Wer hier leben will, braucht Geld. Die wirkliche menschliche Einheit, die in Freiheit leben will, bleibt offenbar gerne unter sich. Durch eine Sicherheitskontrolle geraten wir mit einem falschen Besucherausweis zum Aurobeach, dem dazugehörigen Strand. Französinnen sitzen im Schneidersitz im Kreis. In ihrer Mitte ein Sandhaufen, auf den sie ihre Hände legen. Sie summen etwas. Eine deutsche Familie legt ihre Handtücher aus, die Sonnencreme schlecht verrieben. Der Strand ist zu den Seiten durch einen Zaun abgetrennt und von Sicherheitsmännern bewacht. Dahinter stehen Massen von planschenden Indern, gaffen und zeigen herüber. Ein lokaler Fischer möchte zu seinem Boot, wird aber nicht hereingelassen. Er hätte das Boot nicht nachts an den Aurobeach stellen sollen. Neben einem bunten Fischerboot sitzt ein Mann mit einem Kopftuch und macht Dehnungsübungen. Lustig, denke ich, der sieht aus wie Ulli. Es ist Ulli. "Nö Spirit" Irritiert und überrascht begrüße ich ihn. Er scheint unbeeindruckt von unserer zufälligen Begegnung: Sei ja klar gewesen, dass ich kommen würde. Er selbst habe sich verletzt, viele "strong Stories" erlebt, die Radtour abgebrochen, sei bei dem besten Homöopathen der Welt in Bombay gewesen, sei im Osho-Ashram in Poona gewesen. Aber die Leute da hätten einfach "nö spirit, nö enorgy". Nun sei er wieder hier. An seinem Bein eitern dicke Schwellungen, grünumrandete Insektenstiche. Ulli wirkt unglücklich. Seinen Kopf wiegend sieht er auf die grauen Wellen. "Wenn du frei sein willst", sagt er, "musst du kämpfen. Jeden Tag."

Text: julian-heun - Foto: oh

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