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„Du kannst mit einem Rekord kein Brot kaufen“
Auf dem Meer ist was los. Vergangenen Juli kam der Kalifornier Zac Sunderland im Alter von 17 Jahren von einer Weltumseglung zurück. So jung hatte das bis dahin niemand geschafft. Fünf Wochen später nahm sich der Brite Mike Perham den Rekord, weil er bei der Zieldurchfahrt drei Monate jünger war. Im Oktober 2009 machte sich die 16-jährige Jessica Watson in ihrem Boot auf den Weg um die Welt, der gut zehn Monate dauert. Vor gut zwei Wochen schließlich setzte sich Abby Sunderland, Zacs Schwester, an der kalifornischen Küste in ein Boot, um ebenfalls um die Welt zu segeln. Genau wie Jessica ist sie 16 und will auch jüngste Weltumseglerin werden. Die 14-jährige Holländerin Laura Dekker darf sich nach vielen Diskussionen um ihr Alter vielleicht im Sommer auf den Weg machen – vorausgesetzt, das zuständige Familiengericht hat nichts dagegen. Der Australier Jesse Martin hat den großen Trip bereits hinter sich. Am 31. Oktober 1999 kehrte er im Alter von 18 Jahren von seiner Weltumseglung auf der „Lionheart“ zurück. Bis heute ist Jesse der jüngste Mensch, der alleine, ohne Hilfe und – das unterscheidet ihn von Mike – ohne Stopp um die Welt segelte. Sofort nach seiner Rückkehr plante Jesse (der übrigens während einer Weltreise seiner Eltern in Dachau geboren wurde) eine neue Reise. Mit Freunden machte er sich auf einen Segeltrip, der ursprünglich drei Jahre dauern sollte, aber früher scheiterte. Heute arbeitet Jesse in einer Filmproduktion in Melbourne. Im Interview spricht er über Rekorde, das Erwachsenwerden auf See und das Scheitern des zweiten Trips, das erst heute, viele Jahre nach der Reise in der Dokumentation 5 lost at Sea zu sehen ist. Der Film lief bislang fast nur auf Festivals. Auf der verlinkten Website ist immerhin ein Trailer zu sehen.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Jesse jetzt.de: Jesse, wirst du noch auf deinen Rekord angesprochen? Jesse: Im letzten halben Jahr schon. Vor allem wegen Jessica Watson, die auch aus Australiern stammt. Sie ist die Erste, die meinen Rekord schlagen könnte. Bisher hat sie nicht angehalten und soweit ich weiß, hat sie es auch nicht vor. Mike und Zac waren jeweils für Reparaturen an Land. jetzt.de: Hast du eine Erklärung für den Ehrgeiz, dem so viele junge Segler gerade verfallen? Laura Dekker wollte sogar schon mit 13 lossegeln. Jesse: Ich kann da leider auch nur raten. Vielleicht suchen sie einfach nach Grenzen, die sie verschieben können. Die Altersgrenze beim Solosegeln ist noch in Reichweite. jetzt.de: Warum hast du’s gemacht? Jesse: Mich hat es gereizt, mein Schicksal allein in der Hand zu haben. Beim Solosegeln lässt du die Welt hinter dir und führst da draußen ein neues Leben.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Die Zeitungsschlagzeile zur Rückkehr. jetzt.de: Was hast du dir vom zweiten Trip mit deinen Freunden versprochen? Das andere Extrem? Jesse: Bevor ich zum Solotrip aufgebrochen war, hatte ich kaum Segelerfahrung. Meine Botschaft nach der Rückkehr war: ,Ganz normale Menschen können große Träume verwirklichen.‘ Mit dem zweiten Trip wollten wir was Ähnliches beweisen und nebenbei sollte eine 13-teilige TV-Dokumentation entstehen. jetzt.de: Herausgekommen ist „5 lost at Sea“. Was ging schief? Jesse: Kurz bevor ich losgefahren bin, habe ich noch einmal meine Exfreundin getroffen, die dann aber nicht mit an Bord war. Das hat mich aus der Bahn geworfen. Es gab außerdem kommerziellen Druck. Wir hatten eine Filmproduktion im Rücken, die mitgeholfen hatte, das Geld für den Trip und die geplante Doku aufzubringen. Die Produzenten wollten ständig neues Filmmaterial. So stand der wirtschaftliche Aspekt gegen fünf Jugendliche auf großer Fahrt. Dann kam Mutter Natur hinzu: Wir stießen gegen ein Riff, so dass das Boot fast gesunken wäre. Dann waren wir auf Bali, kurz nachdem dort 2002 die Bombe explodiert war. Viele Indonesier und auch Australier sind an dem Tag ums Leben gekommen. Wir waren am Ort des Anschlags und uns ist das wahnsinnig nahe gegangen. In dem Nachtclub hatten junge Leute gefeiert, die so alt waren wie wir. Plötzlich sah die ganze Welt wie ein ziemlich gefährlicher Ort aus. Naja, und dann waren wir mit so einer Vision losgefahren. Wir hatten eine Idee vom Paradies und haben danach gesucht. Für die Dokumentation waren wir unter anderem auf der Suche nach einem bestimmten Nomadenstamm. Als wir ihn fanden, hatten die aber schon Satellitenfernsehen. All unsere Vorstellungen vom Paradies – sie existierten einfach nicht. jetzt.de: Habt ihr gestritten? Jesse: Wir hatten viele Auseinandersetzungen. Mein Durchsetzungswille war für die Gruppendynamik nicht besonders hilfreich. jetzt.de: Mike Perham zieht auf seiner Website schon Bilanz. Er schreibt, dass er mit 14 alleine über den Atlantik segelte, mit 17 um die Welt, jetzt segelt er die Strecke nach, auf der die Bounty einst fuhr. Schließlich fragt er rhetorisch, was wohl komme, wenn er 19 werde? Das wirkt maßlos. Kann man nach einem Rekord einfach nicht mehr aufhören? Jesse: Ich hatte immer eine sehr idealistische Haltung zum Segeln. Manchmal fühlt es sich an, als könne man auf einem Boot in der Zeit zurückreisen. Verstehst du, was ich meine? jetzt.de: Nicht ganz. Jesse: Es ist eine zeitlose Erfahrung. Vielleicht ist das die bessere Beschreibung. Mit einem Boot kannst du Buchten bereisen, die andere nie sehen. jetzt.de: Besonders häufig hast du auf deinem ersten Trip nicht angehalten. Du bist doch dem Rekord nachgefahren! Jesse: Ich hab den Nonstop-Trip nur gemacht, weil ich den Rekord brechen musste, um an ein Boot zu kommen! Mein erster Plan war ja, überall anzuhalten und an Land Abenteuer zu erleben. Danach habe ich den Plan aber geändert, um die Finanzierung für „Lionheart“ zu bekommen. Dafür ging es bei der Tour mit meinen Freunden darum, zu den verlassenen Punkten der Erde zu segeln.
jetzt.de: Jessica Watson schrieb am 24. Januar in ihr Blog, wie sie während eines Sturms vier „Knockdowns“ hatte (dabei taucht der Mast des Boots ins Wasser/Anm.). Der Text wurde fast 900 Mal kommentiert. Du hast vor zehn Jahren nur einmal wöchentlich einen Artikel für die Tageszeitung in Melbourne geschrieben. Ohne Foto. Würdest du den Trip lieber heute machen? Jesse: Ich frage mich, ob die Tatsache, dass du schreiben und telefonieren kannst, wann du willst, nicht das Besondere des Trips nimmt? Damals bekam ich die Mails meiner Freunde nur alle paar Wochen, gebündelt. Jeder Buchstabe kostete zum Verschicken einen Cent. Deshalb waren alle Leerzeichen ausgelassen und die Wörter eingekürzt. Wie ich mich auf die Post gefreut habe! jetzt.de: Eben habe ich online die Bilder vom „Lionheart“-Trip gesehen und bin bei Nummer Neun hängengeblieben (siehe Fotos, rechts unten). Du schaust verängstigt aus. Was war da?
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Jesse: Das war bei Kap Hoorn. Das Wetter war mies. Eine Welle hatte mich erwischt und ich war komplett nass. Sich warm und trocken halten ist bei solch einem Trip echt das Wichtigste. jetzt.de: Was ist das Schwierigste? Jesse: Du schläfst nie ruhig. jetzt.de: Inwiefern? Jesse: Mit einer Automatik hält das Boot über Nacht zwar den Kurs, aber das funktioniert nur, wenn der Wind gleich bleibt. Nun ist es nicht so schlimm, wenn du auf dem offenen Meer mal vom Kurs abkommst. Gefährlich wird es, weil sich der Winkel ändert, in dem du in die Wellen fährst. Wenn du sehr lange segelst, lernst du den Sound deines Bootes kennen. Du erkennst dann ein Wechseln der Windrichtung und hast das Gefühl: Eigentlich sollte ich aufstehen und mich ums Segel kümmern. Ein Nonstop-Trip bedeutet sowieso, dass du dich ganz besonders um dein Boot kümmern musst. Das Ding muss ja fast ein Jahr ohne Reparatur aushalten. jetzt.de: Hattest du in der Zeit jemals Kontakt zu Menschen? Jesse: Nach der Hälfte der Reise habe ich meine Eltern getroffen. Sie sind mit einem Motorboot neben mir hergefahren und wir haben uns schreiend unterhalten. jetzt.de: Wie lange? Jesse: 40 Minuten. Dann ging dem Boot der Sprit aus. jetzt.de: Au weh. Jesse: Die eigentliche Tragödie war, dass die schon zwei Wochen auf mich gewartet hatten, weil ich spät dran war. jetzt.de: Machen einen solche Reisen weich? Auf deiner Website stehen pathetische Zeilen: „I am lucky, I have my own god. I can explain him my own way and I don't have to borrow him from anyone.“ Jesse: Ich habe viel gebetet. Immer wenn ich Scheiss-Wetter hatte, habe ich gebetet. Und ich bin durchgekommen. Du kannst das nennen, wie du willst. Aber diese Macht, die ich da gefühlt habe, möchte ich nie mehr missen.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Diese Aufnahme entstand während der zweiten Reise, die zu dem Dokumentarfilm "5 lost at Sea" führte.
jetzt.de: Was glaubst du: Ist die Lust auf Rekordjagden Teil des Menschen?
Jesse: Ich glaube eher, es liegt in der Natur der Menschen, bei dieser Jagd zusehen zu wollen. Selbst bei Kolumbus war es so: Wenn sich niemand für seine Reise interessiert hätte, dann hätte er sie nie machen können. Der Rekord selbst war für mich keine große Sache. Du kannst mit einem Rekord keine Milch und kein Brot kaufen.
jetzt.de: Du hast wegen deines Trips die Schule nicht beendet und auch keine Ausbildung gemacht. Bereust du das?
Jesse: Mir ist die Lebenserfahrung wichtiger. Ich habe mit meinen Abenteuern Geld verdient und Geld verloren – ich habe sogar mehr verloren als gewonnen. Ich bin also 28 Jahre alt und habe Schulden. Das ist mein Leben und ich möchte es nicht tauschen.
jetzt.de: Nehmen wir an, du hast später mal Kinder. Was aus deinem Leben willst du ihnen weitergeben?
Jesse: Meine Mutter hatte damals einen Kredit aufgenommen, um das Boot für mich zu kaufen. Sie wollte den Sponsoren zeigen, dass wir es ernst meinen – dabei hatte sie keine Ahnung vom Segeln. Sie kann nicht mal schwimmen. Wenn ich Kinder habe, will ich es genauso machen: Ich werde sie ermutigen, rauszugehen. Das war das Geschenk meiner Mutter. Sie hat mir die Dinge nie erklärt. Sie hat mich die Welt selbst entdecken lassen.
Text: peter-wagner - Fotos: jessemartin.net