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Die rote Seite
Als der Krieg eine Woche alt ist, setzt Merav Maroody sich ins Auto und macht sich auf den Weg von Tel Aviv zum Journalistenhügel. Der Journalistenhügel ist der Ort, auf dem die Weltpresse herumsteht, weil die israelische Armee, die zwei Kilometer davon entfernt gegen die Palästinenser kämpft, sie nicht näher heran lässt. Ganz oben stehen zwei Bäume, darunter stecken weiße Säulen im Boden, die an einen anderen, älteren Krieg erinnern. Die Menschen, die hier Kameras aufbauen, Notizen machen und in Mikrophone sprechen, beobachten den neuen Krieg, der sich vor ihnen im Dunst abzeichnet. Merav stellt sich auf dem grünen Hügel zwischen die Journalisten und hält ihren Fotoapparat in die Luft. In der einen Richtung sieht sie den Gazastreifen, in der anderen den Badeort Ashkelon, in dem ihre Eltern leben. Ihr Vater stammt aus dem Irak, von ihm hat sie die schwarzen Locken und dunklen Augen, von ihrer polnischen Mutter die helle Haut. Im Sommer lag Merav manchmal in der Nähe ihres Elternhauses in der Brandung des Meeres, blickte nach Süden und dachte daran, dass der Strand von Ashkelon der gleiche war wie der in Gaza. Merav macht Bilder von den kastigen Häuser und den Moscheen Gazas im Staub; von den dicken Rauchsäulen der Bomben über den Dächern, von langen, einsamen Mikrophonen, die neben ihr im Boden stecken, um das Krachen und Dröhnen des Krieges aufzuzeichnen. Sie fotografiert, um zu verstehen, damit dieser Krieg für sie Gestalt annimmt. Und wenn es nur von weitem ist. In Tel Aviv kriegt sie davon nichts mit. Die Stadt am Mittelmeer ist das Berlin Israels, deren lebenslustige Bewohner mit Religion wenig am Hut haben und traditionell eher links wählen. Wenn es irgendwo im Land Demonstrationen gegen den Krieg geben müsste, dann hier. Aber die Proteste halten sich stark in Grenzen. Das Boulevard-Blatt Maariv schreibt, es habe in einer Umfrage herausgefunden, dass fast alle Israelis dem Krieg zustimmen würden: 91 Prozent.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Seit fünf Monaten lässt Yotam sich die Haare wachsen, seit ihn die Armee entlassen hat. "Im Moment sind sie in diesem Zwischenstadium, in dem man immer blöd aussieht", sagt er, und wischt noch einmal mit dem Lappen über die Theke, bevor er seinen Dienst anfängt. Er ist Barkeeper im Alora, einem italienischen Restaurant am Rothschild-Boulevard, Tel Avis schönster Flaniermeile. Als kleiner Junge machte er zum ersten Mal Bekanntschaft mit dem Krieg, als Saddam Israel mit Giftgas bedrohte. "Meine Eltern haben mir erzählt, es sei alles ein Spiel: Ich war der Space-Commander, weil meine Kindergasmaske wie ein Raummanzug aussah, und meine Eltern waren Schweine, weil ihre Masken diese Rüssel vorne hatten. Ich hatte richtig Spaß im zweiten Golfkrieg", erzählt er und grinst. Im Moment hat er noch keine Angst, die Waffen der israelischen Gegner in Gaza reichen nicht bis nach Tel Aviv, noch nicht. Angst hätte er erst, wenn die Armee ihn nach Gaza rufen würde, was theoretisch passieren könnte. In Israel gilt die allgemeine Wehrpflicht, die Männer leisten nach der Schule drei Jahre ab, die Frauen zwei. Es gibt Ausnahmen, aber Yotam ist keine. Seit der Dienst vorbei ist, gehört er zur Reserve. Vor dreieinhalb Jahren war er in Gaza. Er war 19 Jahre alt und Israel zog sich gerade aus dem Streifen zurück, den es 1967 besetzt hatte. Yotams Job bestand darin, alles zu beseitigen, was an Israel erinnerte. Er sah Graffitis an den Wänden, die die israelischen Soldaten als Nazis beschimpften, hingeschmiert von Siedlern, die auf Geheiß der Regierung das Gebiet verlassen mussten. Er fand es damals richtig, dass Israel sich zurückzog, auch heute meint er: "Wir haben da nichts zu suchen. Das ist nicht unser Land." Er weiß, dass die Armee ihn vielleicht rufen wird. Er weiß auch, dass er sich drücken könnte: Israel geht hart gegen die Wenigen vor, die aus Protest verweigern, aber Krankschreiben geht eigentlich immer. Yotam schüttelt den Kopf. Er würde hingehen. "Die Leute, die jetzt dort kämpfen, machen es, um mich zu verteidigen. Ich finde es nicht gut, wie sie das machen, aber ich kann mich da nicht raushalten. So ist das eben." Arik Magal zuckt jedesmal zusammen, wenn sein Handy klingelt. Sein Bruder könnte dran sein. Tomer ist 23. Als die Armee anrief, war er gerade dabei, herauszufinden, ob er um die Welt reisen oder bei seiner Freundin bleiben wollte. Jetzt bereitet er sich auf den Krieg vor, die Brüder telefonieren jeden Tag. Gestern klang Tomer richtig aufgekratzt. Das Training tue ihm gut, sagte er, endlich habe sein Tag Struktur, er könne nicht mehr bis drei Uhr nachmittags im Bett liegen. Wann er nach Gaza müsse, wisse er nicht. "Stell' dir vor, es ist ein Computerspiel - nur mit viel, viel besser Graphik", riet sein Bruder. Arik hat Angst um Tomer. Sein Trost liegt darin, dass die israelische Armee ihren Gegnern haushoch überlegen ist. Als Arik an diesem Morgen, dem zehnten Tag des Kriegs, aufwachte, waren etwa 700 Palästinenser gestorben - und neun Israelis. Der Gazastreifen ist nur ein Fetzen Land - etwa so groß wie München - aber eine der am dichtesten besiedelten Regionen der Welt. Israel sagt, es bemühe sich, keine Unschuldigen zu treffen, aber die Enge des Kampfgebiets macht es auch für Zivilisten zur Todesfalle. Arik wird wütend, wenn man ihn fragt, ob das gerecht sei? "Ich habe das Gefühl, die Welt würde sich freuen, wenn mehr Israelis sterben würden. Tut mir leid, das kann ich mir nicht wünschen." Noch wütender war er, als ein deutscher Freund ihm eine Unterschriftenliste schickte. Betreff: "Waffenstillstand, sofort!". Arik griff in die Tasten und schrieb: "Wie naiv bist du eigentlich?" Er ist für den Krieg, obwohl sein Bruder dabei ist, und obwohl er bisher immer Parteien wählte, von denen er hoffte, sie würden mit den Palästinensern friedlich verhandeln. Aber Arik glaubt fest, dass die Palästinenser in Gaza Israel lieber heute als morgen zerstören würden. Allen voran die Hamas, die Gaza seit dem vorletzten Sommer kontrolliert. Die Bewohner des Gazastreifens haben den politischen Arm der radikal-islamistischen Organisation Hamas bei den paläsinensischen Parlamentswahlen vor drei Jahren mit einer Mehrheit gewählt. Später übernahm Hamas den Rest der Macht gewaltsam - zum Entsetzen Israels, der USA und der EU, die die Hamas als Terroristenorganisation einstufen. Die Hamas lehnte Frieden mit Israel ab, immer wieder flogen in den vergangenen Jahren selbstgebaute und unlenkbare Raketen aus dem Gazastreifen und krachten in Autos und neben Schulen in israelischen Städten, immer wieder starben Menschen. Lange hielt Israel sich mit Gegenangriffen zurück, versuchte, die Hamas zu schwächen, indem es den Gazastreifen abriegelte. Bald mangelte es den Bewohnern an allem: Medikamente, Lebensmittel, Benzin. Die Palästinenser gruben Tunnel, durch die sie Lebensmittel in den Gazastreifen brachten, aber auch Waffen, immer wieder. "Ein tödliches Hamsterrad" hat Joschka Fischer den Nahost-Konflikt genannt. Die Juden, schrieb Arik an seinen deutschen Freund, seien immer gehasst worden. Wenn sie sich nicht selbst verteidigen würden, täte es keiner. 10 000 Raketen, schrieb Arik, hätte die Hamas in den vergangenen Jahren aus dem Gazastreifen auf israelische Städte geschossen - die Menschen lebten in ständiger Todesangst. Die Bewohner Gazas, schrieb er, seien mindestens mit Schuld an ihrem Elend. Als die Mail abgeschickt war, rief Arik Tomer an. Sein Bruder ging nicht ans Telefon. Vor dem Einsatz müssen die Soldaten ihre Handys abgeben. Seitdem weiß Arik, dass sein Bruder in Gaza ist. Seitdem sitzt er vor dem Computer und sieht Filme, einen nach dem anderen, Actionfilme, Katastrophenfilme, die Wände seines Zimmers erzittern von dem Krachen, und Arik wartet darauf, dass er endlich müde wird. Merav sitzt in einem Café, das einer Starbucks-Filiale sehr ähnlich sieht, aber Arcaffe heißt. Sie hat eigentlich keine Lust mehr, über den Krieg zu reden, der jetzt schon fast drei Wochen alt ist, sie hat sich fast daran gewöhnt. Auf dem Journalistenhügel bei Gaza habe es einen Moment gegeben, in dem sie einer Rakete zusah, die aus Gaza aufstieg und dann auf Ashkelon fiel. Das sei schon komisch gewesen, ihre Eltern dächten aber gar nicht nicht daran, Ashkelon zu verlassen. Und sie gibt ihnen recht. Merav ist in Israel groß geworden, Krieg und Terror gehörten immer dazu. Vor zwei Jahren töteten Hisbollah-Kämpfer ihren besten Freund im Libanonkrieg, ein anderer starb bei einem Terroranschlag auf einen Bus. Vor zwei Tagen kam in Gaza ein Bekannter um. Sie trauert um ihre Freunde und ein bißchen trauert sie auch um die palästinensischen Toten, aber sie will ihr Leben weiterleben, so lange und so normal es geht. "Was in Gaza passiert, ist schrecklich, aber es ist nicht schlimmer als das, was in Sudan passiert, oder in Tibet. Es ist zufällig näher dran an mir, aber ich kann genauso wenig tun", sagt sie. Dann lacht sie, sie kann nicht anders, denn eigentlich geht es ihr gerade ganz gut. Sie mag den Winter in Tel Aviv, das kühle Sonnenlicht, sie glaubt, dass sie sich bald verlieben wird. Der Cappuccino auf dem Tisch, die Kamera im Rucksack, der Krieg nebenan und der Frieden dieses Moments, das alles sind Fakten, die zu ihrem Leben gehören. Ihr guter Freund Tom, sagt sie, schreibe gerade eine Werbekampagne für eine Tanzshow im Fernsehen. HipHop- und Breakdancer treten darin gegen Tangotänzer an. Früher hieß die Show "Krieg der Welten". Wegen Gaza hat man sie unbenannt, sie heißt jetzt: "Hör' nie auf zu tanzen".