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Die Frau mit dem lachenden Gesicht

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Ich kann Frau Fischer nicht duzen. Irgendwie ist sie immer noch meine Lehrerin, obwohl ich die Grundschule vor zwölf Jahren verlassen habe. „Früher hast du aber doch auch du gesagt. Frau Fischer und du“, beruhigt sie mich. Darüber muss ich lachen. Und sieze sie trotzdem. Zu sehr erinnert sie mich an die Autoritätsperson von damals, vor allem, weil sie noch ganz genau so aussieht, genauso jung und sympathisch. Daher war sie auch eine Autoritätsperson, vor der niemand Angst hatte. Frau Fischer war von der zweiten bis zur vierten Klasse meine Lehrerin. Sehr jung war sie damals noch, keine dreißig, und wir waren die erste Klasse, die sie für drei Jahre betreute. „Deswegen erinnere ich mich auch besonders gut an euch und habe jede folgende Klasse mit eurer verglichen“, sagt sie heute. Das macht mich fast ein bisschen stolz. Ob sie sich an den ersten Tag in unserer Klasse erinnere, frage ich sie. „Ja, ihr habt gefragt, ob ihr gerade sitzen und die Hände auf die Tische legen müsst.“ Brave Kinder also, brave Kinder aus dem Westerwald in einer Dorfgrundschule in den Neunziger Jahren. Eine Grundschulklasse mit Fensterbildern an den Scheiben, einem Alphabetplakat an der Wand und den Namen jener Schüler an der Seitentafel, die den Ordnungsdienst innehaben; eine Klasse mit Streitereien, ständig wechselnden Freundschaften und regelmäßigem Läusebefall.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Ich selbst erinnere mich nicht mehr an diesen ersten Tag mit Frau Fischer, er ist aus meiner Erinnerung längst verschwunden, so wie viele Grundschultage. Verdrängt von Pubertätserlebnissen und Zukunftssorgen, von Vorlesungen, Beziehungen und Partys. Vom Erwachsenwerden generell. Dabei ist die Grundschullehrerin eine der wichtigsten Personen der eigenen Kindheit. Jeder hatte mal eine – und jeder vergisst sie irgendwann. Das sollte nicht so sein und darum treffe ich sie heute. Mit Frau Fischer kann ich die Zeit zwischen dem sechsten und dem zehnten Lebensjahr noch einmal herauf beschwören. Es sind Details aus dem Unterricht, die ich als erste wieder präsent habe. Ich erinnere mich an die Arbeitsblätter, die wir von Frau Fischer immer bekommen haben. Zettel mit kleinen Symbolen, die für verschiedene Arbeitsbereiche standen: an eine Brille für’s Lesen, ein Heft mit Zahlen für’s Rechnen. Handgeschrieben waren diese Aufgabenblätter, heute würde sie dafür ausgelacht, sagt Frau Fischer. „Aber Stempel kommen immer noch gut an!“ Stempel oder ein Lachgesicht unter einer erledigten Aufgabe – das war das größte Lob der Grundschulzeit und etwas, das wir begierig verglichen. „Oh, du hast auch den schönen Bären“, sagte man zur besten Freundin, während man hoffte, dass das Mädchen, das man nicht mochte, keinen schönen Bären bekommen hatte, weil ihre Schrift zu unordentlich war. „Sie war halt anders“, sagt Frau Fischer heute über das Mädchen, das ich damals nicht mochte, „hochbegabt, würde ich sagen.“ Das Klischee von den manchmal so grausamen Kindern, die alle ausschließen, die nicht ins Schema passen, traf damals wohl auch auf mich zu. Insgesamt seien wir aber gut miteinander umgegangen, sagt Frau Fischer, „wir hatten keine unangenehme Atmosphäre in der Klasse.“ Das stimmt, denn wenn ich zurückdenke, ist da ein gutes Gefühl in mir. Ein Gefühl, das eine behütete, sorgenfreie Vergangenheit zurücklässt, über die es sich keine Bücher schreiben lässt, obwohl viel mehr Bücher darüber geschrieben werden sollten. Man könnte sie vorm Schlafengehen lesen und dann in ruhigen Träumen dem Verkehrspolizisten Klaus begegnen. Der übrigens immer noch mit den Kindern an meiner alten Grundschule den Fahrradführerschein macht und immer noch die gleichen Lehrgeschichten erzählt, damit die Schüler Respekt vor dem Straßenverkehr bekommen. Geschichten von der Radlerin Klein-Erna und ihrem Arm, der bei einem Onkel Sowieso an der Windschutzscheibe hängenblieb, weil sie sich nicht umsah, bevor sie Handzeichen gab. „Klausi-Mausi“ haben wir Klaus damals hinter seinem Rücken genannt und ich schwärmte für ihn. Tagelang hatte ich damit zu kämpfen, dass ich aus Unachtsamkeit auf ein anderes Fahrrad aufgefahren war und Klaus mich deshalb ausschimpfte. Eine der wenigen unangenehmen Erinnerungen an meine Grundschulzeit. Eine weitere ist, dass sich ein Junge neben mir mitten in der Stunde übergab und ich mich mit klopfendem Herzen unter einem der vorderen Tische versteckte. Frau Fischer zieht eine Grimasse, als ich ihr erzähle, sie habe sofort Tücher besorgt und alles aufgewischt. Ich möchte gerne etwas über mich wissen, abseits von den, ebenfalls handgeschriebenen, Grundschulzeugnissen, in denen nette Dinge stehen wie „Nadja liest unbekannte Texte fehlerfrei und flüssig vor.“ Mathe sei „nicht so meins“ gewesen, das weiß Frau Fischer noch. Und, dass ich beim Erzählkreis am Montagmorgen immer sehr viel zu sagen hatte, wenn mich der weiche Ball erreichte, der den Redner bestimmte. Dass ich als Kind ein unglaubliches Redebedürfnis hatte, hängt mir heute noch nach, und irgendwie berührt mich diese Geschichte unangenehm. Doch das gleicht Frau Fischer mit einer weiteren aus: „Anja war die beste Sportlerin in unserer Klasse und beim Sportfest immer der Star. Und dann haben wir 800 Meter-Lauf gemacht und du hast sie aus dem Stand geschlagen.“ Seltsam, wie der Stolz, der mich damals auf der Ziellinie durchflutete, plötzlich wieder in mir hochschwillt, wie ich für einen kurzen Moment wieder blond und staksbeinig werde, Radlerhosen trage und völlig aus der Puste bin. Und dann sprinten die Momente meines Lebens an mir vorbei, die mit Sport zu tun haben: das Tennistraining, der Reitunterricht, das Ende der Sportlichkeit mit dem Einsetzen der Pubertät, die vielen selbstgeschriebenen Entschuldigungen für den Sportunterricht in der Oberstufe. Dieser 800-Meter-Sieg war wohl der Höhepunkt meiner Sportlerkarriere. Mein Weg hat längst eine andere Richtung genommen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Damals, vor zwölf Jahren: die lächelnde Frau Fischer neben Nadja auf dem Klassenfoto. Wir versuchen, die Wege meiner Klassenkameraden zu rekonstruieren. Wer sie waren, wie sie waren, was aus ihnen geworden ist. Frau Fischer erinnert sich an erstaunlich viele und auch vor meinem geistigen Auge tauchen sie wieder auf, in drei oder vier Reihen, hinten auf einer Bank stehend oder vorne im Schneidersitz, arrangiert fürs Klassenfoto und konserviert für Momente wie diesen. Wir erinnern uns an den etwas Unerzogenen, den Linkischen, die Frühreife. An die, die aus allem ein Drama machte und an den Schönen, in den unter anderem ich verliebt war. Und von einigen wissen wir auch, wohin es sie verschlagen hat – nicht zuletzt, weil Frau Fischer einen Account bei wer-kennt-wen.de hat. Die kleine Ballerina ist nun Mutter und lebt in München. Zwei Jungs arbeiten im Supermarkt. Ein anderer ist Industriekaufmann, Ausbildung mit Auszeichnung. Und eine der Klassenkameradinnen von damals ist heute noch meine beste Freundin – es ist gut, dass sich manche Dinge nicht ändern. Irgendwann nimmt das Gespräch langsam eine Wendung, hin zur Gegenwart und zu dem, was ich gerade mache. Als Grundschülerin und Grundschullehrerin hat man eben nur eine begrenzte Menge an gemeinsamen Erinnerungen. Man kann sie in einem dreistündigen Treffen fast vollständig erkunden. Dass ich nun hier sitze, um über ein Treffen mit ihr zu schreiben, scheint Frau Fischer nicht zu wundern. Schreiben habe mir ja schon früher Freude bereitet. Und auch meine ganze Art, sagt sie, erkenne sie wieder. Ein bisschen von meinem Grundschul-Ich scheint also noch heute in mir zu stecken.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Heute, nach zwölf Jahren: Nadja hat sich verändert. Meine Eltern soll ich grüßen, sagt Frau Fischer zum Abschied, und dass sie sich sehr gefreut habe. Später, im Auto auf der Fahrt zum Haus meiner Eltern, die noch immer ganz in der Nähe meiner alten Grundschule wohnen, fühle ich mich irgendwie erfrischt und merke daran, dass es sich lohnt, ab und zu Orte und Menschen aufzusuchen, die die eigene Kindheit geprägt haben. Sofern es eine gute Kindheit war. In der folgenden Nacht habe ich einen Alptraum. Ich werde verfolgt und jemand verliert einen Arm. Ob der Arm zuvor Handzeichen gegeben hat, weiß ich nicht mehr. Aber die Geschichte von Klein-Erna ist mir nach dem Aufwachen wieder ganz nah. Mir kommt es vor, als hätte Klaus sie eben erzählt. Als sei ich erst gestern mit dem Ranzen auf dem Rücken ins Klassenzimmer gestolpert, wo ein Alphabetplakat und Frau Fischer schon auf mich warteten.

Text: nadja-schlueter - Illustration: Judith Urban; Fotos: privat

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